Johann Wolfgang von Goethe wird oft als leuchtendes Beispiel der Toleranz gesehen. Von ihm gibt es ja auch diesen bekannten Ausspruch:
875. Toleranz sollte eigentlich nur eine vorübergehende Gesinnung sein: Sie muss zur Anerkennung führen. Dulden heißt beleidigen.
Manche haben das so verstanden, dass Goethe hier nicht von Personen oder Gesetzen redet, nicht von sozialer oder legaler Toleranz, sondern von Überzeugungen. (Was ist der Unterschied?)
Und manche denken eben, dass wir auch alle Überzeugungen anerkennen sollen. Wir sollten also nicht nur die Personen respektieren, sondern auch ihre Überzeugungen. Nicht nur die Freiheit und Würde der Menschen respektieren und anerkennen, dass sie in manchen Dingen anders denken als ich. Sondern auch ihre Gedanken anerkennen also richtig und wahr.
Aber stimmt das? Muss ich, wenn ich tolerant sein will, auch immer die Meinung aller teilen, denen ich begegne? Muss ich z.B. alle Fußballklubs der Welt gut finden?
Nein, dass müssen wir nicht und das ist auch gut so.
War Goethe intellektuell tolerant?
Wie auch immer Goethe seinen Ausspruch gemeint haben mag: er hat sicher nicht intellektuelle Toleranz gemeint. Intellektuelle Toleranz ist nicht praktikabel und Goethe hat sie nicht praktiziert.
Zwei, drei Sätze später sagt er nämlich:
878. Ich bin mit allen Menschen einig, die mich zunächst angehen, und von den Übrigen lass‘ ich mir nichts mehr gefallen, und da ist die Sache aus.
Es scheint sogar, dass Goethe soziale Toleranz schwieriger findet, als sein berühmter Ausspruch über Toleranz nahelegt:
877. Mit wahrhaft Gleichgesinnten kann man sich auf die Länge nicht entzweien, man findet sich immer wieder einmal zusammen; mit eigentlich Widergesinnten versucht man umsonst, Einigkeit zu halten, es bricht immer wieder einmal aus einander.
Goethe hat gewusst, dass intellektuelle Toleranz Quatsch ist. Deswegen sagt er z.B. auch auf der gleichen Seite:
881. Das Absurde, Falsche läßt sich jedermann gefallen: denn es schleicht sich ein; das Wahre, Derbe nicht: denn es schließt aus.
Wahrheit „schließt aus“ – das ist das Gegenteil von intellektueller Toleranz.
Und er selbst wird sich von niemanden verbieten lassen, eine eigene Meinung zu haben:
879. Ich höre das ganze Jahr jedermann anders reden, als ich’s meine; warum sollt‘ ich denn auch nicht einmal sagen, wie ich gesinnt bin?
Keine Spur von Anerkennung . Dazu passen auch seine giftigen Bemerkungen über den Kern des Christentums:
„Vieles kann ich ertragen. Die meisten beschwerlichen Dinge / Duld ich mit ruhigem Mut, wie es ein Gott mir gebeut. / Wenige sind mir jedoch wie Gift und Schlange zuwider, / Viere: Rauch des Tabaks, Wanzen und Knoblauch und Kreuz.“ (Venezianische Epigramme 66)
„Dulden heißt beleidigen“ – warum denn?
Goethe war nicht tolerant.
Aber was ist an der folgenden Aussage beleidigend? „Ich bin nicht Deiner Meinung. Sie ist für mich unerträglich – ich könnte davon nie überzeugt sein. Aber werde nicht versuchen, Deine Meinung mit Zwang zu ändern, höchstens, wenn Du selbst dem „zwanglosen Zwang des besseren Argumentes“ (Habermas) nachgibst. Alle anderen Zwänge lehne ich aber ab, weil ich Dich selbst respektiere und akzeptiere.“
Für manche klingt das unwahrscheinlich. Sie denken: Niemand sollte zwischen mir und meinen Überzeugungen unterscheiden – ich bin meine Überzeugung. Aber so ungewöhnlich ist das nicht.
„Lange kam mir das wie Haarspalterei vor. Denn wie soll man zwischen einem Menschen und seiner Handlungsweise unterscheiden? Viele Jahre später erst ging mir auf, dass es einen Menschen gab, den ich schon immer auf eben diese Weise behandelte: Das war ich selbst. So wenig sympathisch mir auch meine Feigheit, mein Dünkel, meine Habgier waren, ich hörte nicht auf, mich selbst zu lieben. In dieser Hinsicht gab es keine Schwierigkeiten.“ (C.S. Lewis, Pardon, ich bin Christ, Brunnen 1977, 96.)
Wenn wir es bei uns selbst schaffen – dann geht das auch bei anderen. Und wir können wahrhaft tolerant sein, ohne intellektuell tolerant zu sein.
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Die Zitate stammen aus: Johann Wolfgang von Goethe, Goethe-Gesellschaft, 1907: Nr. 877+878, S. 190 und Nr 891+879, S.191, „Nr. 875, S. 190. . Goethe beschreibt hier anscheinend seine Filterblase, die Bubble, in der er lebt: Alle Menschen um ihn herum denken eh gleich wie er, die anderen sind ihm egal. Da ist es leicht, tolerant zu sein. Aber so ist das Leben nicht. Unsere Blasen platzen immer wieder. Das ist auch gut.
Mehr zu Goethes Einstellung zum Christentum: https://de.wikipedia.org/wiki/Johann_Wolfgang_von_Goethe#Religionsverst%C3%A4ndnis.