Wahrheit und Toleranz

Die Grenzen der Toleranz

Bild: David Clode, unsplash.com

Klar: wir sind gern tolerant und wollen mit allen gut auskommen. Am liebsten würden wir zu jedem sagen: Du hast recht. Und Du hast auch recht. Ihr habt alle recht. Auch wenn Ihr Euch widersprecht, seien wir friedlich, …

So geht’s halt leider nicht.

„Wir können nicht alles und jedes tolerieren. Es muss Grenzen geben,…“ (Standard Online, 26.5.2017.)

Wir können nicht alles und jedes tolerieren. Es muss Grenzen geben. Und zwar eindeutig aus Liebe zu den Menschen, damit die Menschen nicht unter die Räder kommen und leiden, damit Freundschaften und Beziehungen funktionieren, damit unsere Gesellschaft funktioniert.

Unrecht als eine Grenze der Toleranz

Denken wir an unsere Gesellschaft. Wir brauchen Grenzen, das leuchtet jedem ein. Gesetze verbieten Diebstahl und Polizisten suchen Diebe – Gesetze regeln klar: Stehlen ist nicht OK.

Oder denken wir an einen Fall aus Kärnten. Dort haben Bewohner einer Wohnanlage verbotenerweise einen Haufen giftiger Schlangen und Spinnen in ihrer Wohnanlage gehalten. Das hat den Nachbarn nicht gefallen, sie wurden 2021 wegen „fahrlässiger Gemeingefährdung“ (Prozess um giftige Schlangen und Spinnen, https://kaernten.orf.at/stories/3123386/, 28.9.2021) angeklagt.

Auch in Freundschaften sind Grenzen wichtig. Wenn Du einen Freund hast, der Dich dauernd anlügt, dann wird das irgendwann schwierig. Sehr schnell sogar. Wenn der wirklich Dein Freund ist, dann wird er Dich nicht dauernd anlügen.

Wo wirklich Unrecht geschieht, ist eine Grenze der Toleranz erreicht.

Wir können nicht alles und jedes tolerieren. Es muss Grenzen geben. Das leuchtet uns ein, wenn es um Unrecht geht.

Überzeugung als eine Grenze der Toleranz?

Aber es gibt noch eine andere Grenze der Toleranz. Viele denken, um tolerant zu sein, muss ich auch Deine Gedanken und Überzeugungen akzeptieren, das heißt, ich müsste nicht nur sozial oder legal tolerant sein. Ich müsste dann auch intellektuell tolerant sein. Das stimmt aber nicht.

Um wahrhaft tolerant zu sein, muss ich Dir nicht in allem zustimmen. Das würde mich dazu bringen, dauernd alle möglichen, auch widersprüchlichen Dinge zu vertreten. Das könnte auch richtig gefährlich werden, wenn es um z.B. um Medikamente, Pilze oder statische Berechnungen geht. Das würde Manipulation und Missbrauch Tür und Tor öffnen – denn ich wäre das ideale Opfer dafür.

Es ist gut, dass tolerante Menschen nicht intellektuell tolerant sein müssen.

Gut, dass es keine intellektuelle Toleranz gibt.

Intellektuelle Toleranz enthält eine Vorstellung von Wahrheit, die sagt: Alles ist wahr. Damit gibt man die Vorstellung von Wahrheit auf. Wozu führt das?

Das Ende der Freiheit: Ohne Wahrheit keine Ethik

Wenn alles gleich gültig ist, dann wird letztlich alles gleichgültig.

Das führt dann konsequenterweise dazu, dass Verbrechen relativiert, Grausamkeiten stehen gelassen, hasserfüllte Ideologien toleriert werden: Keine Menschenrechte können mehr Gültigkeit beanspruchen und keine Gräueltaten verurteilt und bekämpft werden. Diese ethische Beliebigkeit bringt Anarchie mit sich und Anarchie hat immer noch zur Herrschaft des Stärkeren geführt (d.h., dass sich der Mann mit der größten Keule durchsetzt).

„Fakten aufzugeben bedeutet, die Freiheit aufzugeben. Wenn nichts wahr ist, dann kann niemand die Macht kritisieren, denn es gibt keine Basis, auf der man das tun kann.“ Timothy Snyder

Es ist wichtig, der Wahrheit auf den Grund zu gehen. Es ist lieblos, Wahrheit aufzugeben, weil es dann keinen Schutz vor Manipulation und Missbrauch mehr gibt

Das Ende des Denkens: Ohne Wahrheit keine Logik

Wenn alles wahr ist, werden unsere Überzeugungen zu einem Sammelsurium widersprüchlicher Gedanken.

Im Grunde ist so ein Wahrheitsbegriff aber selbst zu tiefst widersprüchlich: Wenn es keine absolute Wahrheit gibt, wenn alles irgendwie wahr ist und niemand sagen darf, dass seine Überzeugung wirklich wahr ist, dann kann auch dieser Satz nicht gültig sein: „Es gibt keine absolute Wahrheit“.

Oder anders ausgedrückt: Wenn mir jemand sagt, dass alles gleich gültig ist, dann sagt er mir eigentlich, dass ich nicht auf ihn hören muss. Was er mir sagt, gilt ja nur für ihn, nicht für mich.

Philosophisch gesagt: sprachimmanente Kohärenztheorien, relativistische Theorien und postmoderne Theorien enthalten in sich die widersprüchliche Aussage: „Der folgende Satz gilt immer unter allen Bedingungen: ‚Es gibt keinen Satz, der immer und unter allen Bedingungen gilt.‘“

  • Soll dieser Satz wahr sein? Dann gibt es doch einen wahren Satz.
  • Soll dieser Satz falsch sein? Dann ist es falsch, dass es keine wahren Sätze gibt – und daraus folgt, dass es wahre Sätze eben doch gibt.

Gut, dass es keine intellektuelle Toleranz gibt – denn sie würde unser Denken und unsere Gesellschaft zersetzen.