Viele Verteidigungen gegen das intellektuelle Argument bringen Freiheit ins Spiel und führen zu weiteren Fragen:
Sind auch die „Freier Wille Verteidigung“ und andere Verteidigungen eine Greater-Good-Theodizee?
Für Augustinus könnte es zwei Güter gegeben haben, derentwegen Gott Leid zugelassen hat: Freien Willen und das größere Gute, das Gott durch Leid wirkt (vgl. Little, 26, ebenso bei Thomas von Aquin, Little 28, und Leibniz, Little 30.)
Die Bedingungen für den freien Willen würden so zu Leid führen, ohne uns zu erlauben, bei jedem Leiden zu sagen, dass es zu freiem Willen führt. In diesem Fall haben wir es nicht mit einer „Greater-Good Theodizee“ zu tun. Beim größeren Guten, das Gott durch Leid wirkt, wäre das nicht so einfach von der Hand zu weisen.
Gibt es Willensfreiheit überhaupt?
Um diese Frage zu klären, wären Exkurse in die Hirnforschung, Philosophie und Theologie nötig (vgl. Stosch, 70-86). Dann wäre zu fragen, wer sie unter welchen Umständen und aus welcher Perspektive heraus hat. Z.B. könnten wir aus biblischer Perspektive fragen: Hatte Adam vor dem Sündenfall freien Willen? Um die Frage, wie Gottes Wirken und menschliche Willensfreiheit zusammenpassen, könnte die scientia media (bzw. middle knowledge) eine Lösung sein: Gott weiß nicht nur, was sein wird und was sein könnte, sondern auch was sein werden hätte können, wenn Entscheidungen anders gefallen wären:
„Ich denke, dass es gute und hinreichende Gründe dafür gibt, scientia media zu akzeptieren. Dieses Wissen erklärt, wie Menschen Entscheidungsfreiheit haben und Gott gleichzeitig die Umstände jeder getroffenen Entscheidung festlegt. Diese Sicht stützt eine robuste Sicht von Gottes Vorsehung und libertarianistischer menschlicher Willensfreiheit.“ (Little, 95)
War es das wert?
Von Stosch weist darauf hin, dass Gottes Entscheidung für Freiheit so unbeirrbar ist, dass er sie selbst angesichts des Leides nicht zurücknimmt.
„Offenbar hat sich Gott – so könnte man in dieser Stoßrichtung formulieren – ein für alle Mal dazu entschlossen, die Intention seiner Liebe nur mit den Mitteln der Liebe und damit nur im Zusammenwirken mit seinen Geschöpfen Wirklichkeit werden zu lassen. Seine ‚Schuld‘ angesichts des unheilvollen Zustandes der Welt bestünde in dieser Perspektive also in seiner bedingungslosen Treue zur Liebe und zur alleinigen Wirksamkeit der Mittel der Liebe. Gottes ursprünglicher Entschluss, Freiheit zu wollen und um Freiheit zu werben, um Liebe zu ermöglichen, wäre somit der letzte Rechtfertigungsgrund für das Leiden in der Welt.“ (Stosch, 88)
Doch ist es das wert?
Für jeden Menschen ist es möglich, zu denken, dass der freie Wille so wertvoll ist, dass er das Risiko des Leides aufwiegt (vgl. Stosch, 89).
Wer denkt, das Risiko des Leides war es nicht wert, muss auch denken, dass es besser wäre, wenn es keine Menschen gäbe. Wir werden also dahin geführt zu fragen: Ist es gut, dass es die Welt und Menschen gibt? Ist es gut, dass es mich gibt?
Für Ablehnung und Zustimmung gibt es Gründe und Beispiele, die besonders in entsetzlichen Leiderfahrungen akut werden. Sogar angesichts des schrecklichen Grauens und der Verbrechen von Auschwitz gibt es beides, Ablehnung und Zustimmung.
Ablehnend wird z.B. gefragt, wie Gott „einfach“ zusehen konnte:
„Ist ein Gott glaubwürdig, der Auschwitz aus ‚Liebe‘ mit ansähe, nur weil er die ‚Freiheit‘ des Menschen respektiert? Auschwitz – ein ‚Preis der Liebe‘?“ (K.-J. Kuschel, Ist Gott verantwortlich für das Übel?, 244, zit. n. Stosch, 101.)
Zustimmend werden Zeugnisse wie die von Viktor Frankl, der in Auschwitz einen Freund sein Testament an seine Frau auswendig lernen ließ und ihr darin sagen wollte:
„Erstens – wir haben täglich und stündlich von ihr gesprochen – erinnerst du dich? Zweitens: ich habe nie jemanden mehr geliebt als sie. Drittens: die kurze Zeit mit ihr verheiratet zu sein dieses Glück hat alles aufgewogen, auch was wir jetzt hier erleben mussten….“ (Viktor Frankl, … trotzdem Ja zum Leben sagen. Ein Psychologe erlebt das Konzentrationslager, München, Kösel, 1977, 92)
Stosch fasst zusammen:
„Offenbar ist es auch angesichts der größten Katastrophe und einer das menschliche Denken übersteigenden Bestialität möglich, aufgrund der Liebe eines einzigen Menschen an den Sinn des Lebens zu glauben und in der Hölle von Auschwitz bedingungslos ‚Ja‘ zum Leben zu sagen. Genauso kann aber auch umgekehrt das Leiden eines einzigen zu Tode gemarterten Kindes genügen, um dieser Welt das eigene Ja definitv zu verweigern.“ (Stosch, 102)
Wer hier und jetzt „Nein“ sagt, könnte aber später im Blick auf das Ganze sein Meinung ändern (Stosch, 105).
Es ist wie bei einem Roman: Wir denken nicht nach den ersten Kapiteln, die gesamte Geschichte zu überblicken. Wer z.B. „Die Brüder Karamasow“ liest, denkt alle 50 Seiten, dass sicher eine andere Person das Verbrechen begangen hat. Das ganze Bild haben wir erst am Schluss.
Auch Gottes Geschichte mit uns überblicken wir jetzt nicht. Auch alle Leidenserfahrungen könnten wir möglicherweise später anders einordnen. Das bedeutet nicht, dass wir jetzt und hier von allem Leid genau das sagen können. Es darf nicht so weit kommen, dass wir sagen (oder denken): „Ist eh’ nicht so schlimm, weil es später Sinn machen wird.“ Es bedeutet auch nicht, dass wir eines Tages von jedem Leid wissen „wozu es gut war“.
Aber bei jedem Leid ist es möglich. Wenn das so ist, können wir auch denken: Freiheit ist das Risiko des Leides wert.
Gibt es sinnloses Leid?
Könnten Lukas 13,1-5 biblische Beispiele für sinnloses Leid sein? Hier wird ausgesagt, dass die von Pilatus Ermordeten und die durch den Gebäudeeinsturz Getöteten nicht schlimmer waren als andere Menschen. Sie wurden also nicht speziell aus irgendeinem Grund zu Tod gebracht. Es wird auch nicht nahegelegt, dass ihr Tod irgendeinem Zweck dient. Jesus weist lediglich darauf hin, dass alle Menschen sterblich sind und Rückanbindung zu Gott brauchen.
Gottes Ziel: Liebevolle Beziehungen zu Menschen
Leid geht letztlich darauf zurück, dass Gott liebevoll mit Menschen in Beziehung treten will. Für Gott war die Möglichkeit des Leides damit ein annehmbarer Preis für die Möglichkeit der Liebe, wie David Bentley Hart sagt:
„Entweder man akzeptiert das Geheimnis geschaffener Freiheit und damit auch, dass die Vereinigung freier geistlicher Wesen mit dem Gott der Liebe ein solch wundervolles Ding ist, dass die Macht der Schöpfung, sich selbst unter den Tod zu versklaven, für Gott akzeptabel ist; oder man urteilt, dass nicht einmal solch vernünftige Freiheit das Risiko eines kosmischen Falls und seiner furchtbaren Konsequenzen wert sind.“ (David Bentley Hart, The Doors of the Sea. Where was God in the Tsunami? Eerdmans, Grand Rapids, 69)
Hart weist darauf hin, dass es Gott es Geschöpfen gestattet, die Geschichte mitzugestalten, innerhalb der Schöpfungsordnung, wie Little hinzufügen würde:
„Gott könnte es dem Böse erlauben, eine eigenständige Geschichte zu haben, um den Geschöpfen ihre Bestimmung freier Vereinigung mit ihm in Liebe nicht zu verwehren, aber er ist nicht der einzige und unwiderstehliche Autor, der die Geschichte nach seinen ewigen und willkürlichen Erlässen gestaltet.“(Hart, 87)
Weitere Fragen
Aber weshalb wollte Gott diese Freiheit geben? Weshalb greift er nicht öfter ein? Diese und weitere Fragen werden in folgenden Beiträgen bearbeitet (und hoffentlich beantwortet).
Weiterlesen:
Bruce A. Little, God, Why This Evil? Hamilton Books, Lanham, MA, 2010.
Alvin Plantinga, God, Freedom, and Evil, Eerdmans, Grand Rapids, 1974, 29-64.
Klaus von Stosch, Theodizee, Ferdinand Schöningh, Paderborn, 2013.
David Bentley Hart, The Doors of the Sea. Where was God in the Tsunami? Eerdmans, Grand Rapids 2005.
Originalzitate
„I think there are good and sufficient reasons for accepting middle knowledge. It is middle knowledge that explains how men have the freedom of choice, while God determines the circumstance within which each choice is made. This understanding supports a robust view of God’s providence as well as a libertarian view of man’s freedom.“ (Little, 95)
„… either one embraces the mystery of created freedom and accepts that the union of free spiritual creatures with the God of love is a thing so wonderful that the power of creation to enslave itself to death must be permitted by God; or one judges that not even such rational freedom is worth the risk of a cosmic fall and the terrible injustice of the consequences that follow from it.“ (Hart, 69)
„God may permit evil to have a history of its own so as not to despoil creatures of their destiny of free union with him in love, but he is not the sole and irresistible agency shaping that history according to eternal arbitrary decrees.“ (Hart, 87)