Wie alle Menschen wissen wir, dass es einen Unterschied zwischen gut und böse gibt. Es mag Streit darüber geben, was im Detail gut ist oder böse, aber der Unterschied ist uns bekannt.
Die Naturwissenschaft kennt diesen Unterschied nicht. Sie ist wertneutral. Sie kann uns überhaupt nichts über Werte sagen. Sie kann sagen, ob sie für ein Experiment Mäuse braucht – aber ob sie die Mäuse dafür haben darf, kann sie nicht sagen. Sie kann uns sagen, wie ein Atomkraftwerk funktioniert. Aber ob wir eines bauen sollen – dazu kann die Wissenschaft nichts sagen.
Aus der Beschreibung der Natur entstehen keine Ziele, keine Werte und keine Ethik. Albert Einstein sagte:
„Jeder Versuch, Ethik auf wissenschaftliche Formeln zu reduzieren, muss scheitern.“ (zit. in John Lennox, Stephen Hawking, das Universum und Gott, SCM R. Brockhaus, Witten 2011., 13)
Darüber hinaus kann die Wissenschaft keine ethischen Fortschritt herstellen. Sie kann die Heilserwartungen, die in sie gesetzt werden, nicht erfüllen:
„Neuzeitliche Wissenschaft war, wie auf dem Weg durch die Modelle zur Wissenschaftsentwicklung immer wieder hervorgehoben wurde, aufs innigste mit dem Gedanken eines Fortschritts verknüpft. Dieser sollte sich bei Bacon in der Verbesserung der Lebensbedingungen und, daraus erwachsend, in einem friedlichen Zusammenleben niederschlagen. Mit der Aufklärung wurde dies tiefer begründet in der Vorstellung, mehr Wissen durch mehr Wissenschaft führe zu vernünftigerem und damit sittlicherem Handeln. Und die deutschen Idealisten verbanden die Forderung nach Presse- und Meinungsfreiheit konsequent mit der Forderung nach Wissenschaftsfreiheit. … so treffend und notwendig das alles ist, es garantiert nicht den moralischen Fortschritt der Menschheit. Das aber war über Jahrhunderte der Inhalt der säkularisierten Heilserwartung!“ (Hans Poser, Wissenschaftstheorie. Eine philosophische Einführung, 2. Auflage, Reclam, Stuttgart 2012, 344-345, Hervorhebung im Original)
Ethische Bildung findet nicht einfach durch Wissensvermittlung statt. Daran wird man erinnert, wenn man sieht, wie die klügsten und gebildetsten Menschen mit ihren Rädern umgehen, bei den Radständern an allen Unis dieser Welt.
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Warum kann Wissenschaft nicht sagen, ob etwas gut oder böse ist? Ausgebildete Anthropologinnen und Forscher könnten doch verschiedene Handlungen in ihren sozialen Kontexten und ihre jeweilige Bewertung beobachten.
Der Wissenschaftsphilosoph Del Ratzsch erklärt:
„Aber natürlich kann man die Richtigkeit oder Falschheit einer Handlung nicht direkt beobachten, zumindest nicht mit physischen Sinnen. Man kann Handlungen, die falsch sind, beobachten, oder sie als falsch ansehen, aber die Falschheit der Handlung an sich ist nicht Teil der Beobachtungsberichte oder der Ausdrucke von Messgeräten. Was kann die Anthropologin beobachten? Zuerst kann sie feststellen, was Mitglieder einer Kultur für wahr halten, bevorzugen, loben, tadeln und so weiter. … Moralisch ist das, was eine Kultur billigt. Unmoralisch ist, was eine Kultur ablehnt. … Das Ergebnis ist letztlich ein ethischer subjektiver Relativismus.“ (Del Ratzsch, Science & Its Limits. The Natural Sciences in Christian Perspective, 2. Auflage, IVP, Downers Grove 2000, 97, eigene Übersetzung)
So ein ethischer subjektiver Relativismus birgt Vorteile. Er hat aber auch Probleme:
„Eine Frage, die im Kontext von subjektivem Relativismus ganz natürlich aufkommt, ist die: Was wenn eine Person denkt, es sei richtig für ihn oder sie, alle Nachbarn abzuschlachten? Eine Standardantwort darauf ist, dass das gesellschaftlich inakzeptabel wäre und damit auch falsch wäre, selbst wenn ein Individuum anders denkt. Aber was wenn eine Gesellschaft denkt, ihre Nachbargesellschaften (oder eine Minderheit innerhalb der Gesellschaft) abzuschlachten sei moralisch zulässig? (Historisch gesehen ist das nicht weit hergeholt.) Wird es dann nicht für sie in Ordnung, ans Werk zu gehen?“ (Del Ratzsch, Science & Its Limits. The Natural Sciences in Christian Perspective, 2. Auflage, IVP, Downers Grove 2000, 97-98, eigene Übersetzung)
Gewöhnlich wollen wir nicht, dass unsere ethische Position es erlaubt, andere Gesellschaften auszulöschen. Daher ist der Ausweg:
„Die einzig haltbare Entgegnung für subjektive Relativisten scheint zu sein, dass es falsch ist, anderen grundlos Schaden zuzufügen, egal, wer du oder deine Gesellschaft zu sein glaubt. Aber diese Antwort zerbricht die Verbindung zwischen dem moralischem Begriff falsch und dem Beobachtbaren (der Einstellung der Gesellschaft). Wenn diese Verbindung zerbricht, scheitert das ganze Projekt, denn das Projekt hing davon ab, moralische Begriffe an Beobachtbarem fest zu machen. Anscheinend kann diese Art Ausweitung der Naturwissenschaft in die Ethik nur schmackhaft gemacht werden, wenn das grundlegende Prinzip an einem entscheidenden Punkt aufgegeben wird; und das scheint anzudeuten, dass selbst von einem rein philosophischen Standpunkt aus diese Art von Ausweitung einer Naturwissenschaft in die Ethik fehlgeleitet ist.“ (Del Ratzsch, Science & Its Limits. The Natural Sciences in Christian Perspective, 2. Auflage, IVP, Downers Grove 2000, 99, eigene Übersetzung)
Diese unerwünschten Auswirkungen eines ethischen Relativismus können auch als Hinweis auf die Existenz Gottes dienen: Frauen zurück an den Herd? Das moralische Argument.