Kann die Wissenschaft alles klären? Viele denken dabei übrigens an Naturwissenschaften, nicht Philologie oder Philosophie. Viele Fragen sind berechtigt und sinnvoll, aber für die Naturwissenschaft nicht zu beantworten. Außer der Frage nach Ethik und nach Gott könnten das solche Fragen sein:
- Verfolgt die Natur eine Absicht? Oder zumindest die Wissenschaft – welchen Wert und welches Ziel hat unsere Wissenschaft? Wir alle leiten Absichten, Ziele und Zwecke aus Beobachtungen ab. Obwohl frühe Wissenschaftler das auch taten, beschäftigen sie sich nicht mehr damit. Das macht „Absicht“ aber nicht sinnlos oder unwichtig (vgl. dazu Del Ratzsch 2000, 95). Könnte die Natur selbst auch Absichten verfolgen? Der Mathematiker John Lennox erinnert uns, dass die Naturwissenschaft schon bei einem einfachen Kuchen überfordert ist. In seinem Beispiel hat Tante Mathilde ihn gebacken und Forscher haben ihn untersucht:
„Nachdem nun diese Experten, jeder hinsichtlich seiner wissenschaftlichen Disziplin, eine vollständige Beschreibung des Kuchens abgegeben haben, können wir daraufhin sagen, dass der Kuchen vollständig erklärt ist? Wir haben sicherlich eine Beschreibung davon erhalten, wie der Kuchen gemacht wurde und wie sich seine verschiedenen Bestandteile zueinander verhalten. Aber nehmen wir an, ich stelle jetzt der versammelten Expertenrunde eine abschließende Frage: Warum wurde der Kuchen gebacken? Das Lächeln auf Tante Mathildes Gesicht zeigt uns, dass sie die Antwort kennt, denn sie hat den Kuchen gebacken und sie weiß zu welchem Zweck. Aber alle Ernährungswissenschaftler, Biochemiker, Chemiker, Physiker und Mathematiker der Welt werden nicht in der Lage sein, die Frage zu beantworten – wobei ihre Unfähigkeit keine Herabsetzung ihres Wissenschaftszweiges ist.“ (John Lennox, Hat die Wissenschaft Gott begraben. Eine kritische Analyse moderner Denkvoraussetzungen, 8. Auflage, SCM R. Brockhaus, Witten 2009, 59)
- Was ist der Ursprung von allem? Wie entstand das Universum? Warum gibt es etwas und nicht vielmehr nichts? (Mehr dazu hier: Von nichts kommt nichts. Das kosmologische Argument) Es reicht nicht, auf die Naturgesetze hinzuweisen. Diese Gesetze brauchen auch eine Erklärung:
„Der ganzen modernen Weltanschauung liegt die Täuschung zugrunde, daß die sogenannten Naturgesetze die Erklärungen der Naturerscheinungen seien.“ (Ludwig Wittgenstein, Tractatus logico-philosophicus 6.371.)
- Was ist die Grundlage für die Verständlichkeit und Verstehbarkeit des Universums durch Menschen? (Mehr dazu hier: Was hab ich mit Pi zu tun? Das teleologische Argument (Mathematik) und hier: Vertrauen in Logik und Mathematik)
- Warum sollen wir glauben, dass Menschen zu irgendeiner Wahrheit darüber gelangen, wie die Natur wirklich ist? Wieso funktioniert die wissenschaftliche Methode?
„… Die Naturwissenschaft kann weder die wissenschaftliche Methode selbst noch die Voraussetzungen dieser Methode begründen. Denken wir zum Beispiel an das Prinzip der Gleichförmigkeit der Natur. Ich habe bereits dafür argumentiert, dass dieses Prinzip kein Ergebnis der Wissenschaft zu sein scheint, weil es ganz einfach eine Voraussetzung ist, die angenommen wird, damit Ergebnisse erreicht werden. … Das impliziert, dass die Wissenschaft nicht die einzige legitime Grundlage für Überzeugung sein kann.“ (Del Ratzsch, Science & Its Limits. The Natural Sciences in Christian Perspective, 2. Auflage, IVP, Downers Grove 2000, 93, eigene Übersetzung)
- Was ist der Sinn? Was ist das Wesen? Was ist überhaupt Bedeutung, was ist Information? Die chemisch-physikalische Analyse eines beschriebenen Blattes Papier kann nicht die Bedeutung und Information des Textes darauf erschließen. Diese Grenze resultiert aus der semantischen Leere der Naturwissenschaften. Das gilt auch für den Sinn unseres Lebens:
„… keine einzige empirische Wissenschaft … vermag die Frage zu beantworten, was der Sinn des menschlichen Daseins ist: Wissenschaft ist sinn-los geworden! … der kritische Gebrauch der Vernunft musste dazu führen, festzustellen, dass eine Antwort auf die Sinnfrage in den Wissenschaften grundsätzlich nicht gegeben werden kann, schon gar nicht eine absolute Antwort. Wenn diese Frage einen Bezug zu den Wissenschaften hat, dann auf dem Weg über die Weltsicht – aber als eine der Voraussetzungen von Wissenschaft, nicht als Resultat wissenschaftlich gegründeter Erkenntnis.“ (Hans Poser, Wissenschaftstheorie. Eine philosophische Einführung, 2. Auflage, Reclam, Stuttgart 2012, 345-346)

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Die Naturwissenschaft ist prinzipiell nicht genug für unser Menschenleben. Aber das macht nichts. Wo sie gut funktioniert, ist sie großartig. Wo sie nicht funktioniert, gibt es andere Quellen und Methoden.
Mehr:
- Leseempfehlung: „Grenzen wissenschaftlicher Erklärung“ und „Tante Mathildes Kuchen“ in: John Lennox, Hat die Wissenschaft Gott begraben. Eine kritische Analyse moderner Denkvoraussetzungen, 8. Auflage, SCM R. Brockhaus, Witten 2009, 57-59 und 59-64.
- „Große Fragen“ finden sich an vielen Stellen, zum Beispiel hier:
„Wie können wir die Welt verstehen, in der wir leben? Wie verhält sich das Universum? Was ist das Wesen der Wirklichkeit? Woher kommt das alles? Braucht das Universum einen Schöpfer?“ (Stephen Hawking/Leonard Mlodinow, Der große Entwurf. Eine neue Erklärung des Universums, Rowohlt, Reinbeck 2010, 11, zit. n. John Lennox, Stephen Hawking, das Universum und Gott, SCM R. Brockhaus, Witten 2011, 10-11)
oder hier
- „Warum gibt es etwas und nicht einfach nichts?
- Warum existieren wir?
- Warum dieses besondere System von Gesetzen und nicht irgendein anderes?“ (Hawking/Mlodinow, 15, zit.n. Lennox 2011, 14)
- Originalzitate von Del Ratzsch:
„In fact, we all routinely do connect observations to conclusions about human purposes, intentions and so forth. Our dealings with other people depend on our having beliefs about their purposes, intentions and states of mind, and we often acquire those beliefs in the course of, say, observing them boot their philosophy text out of the window. Historically, purpose (or teleology) was a primary explanatory and interpretive category in science. The connections between underlying purposes and observable things were perceicved as being strong enough to allow the empirical study of nature to be a source of knowledge about God. Tracing such connections was a popular project for scientists until well into the nineteenth century. However, the concept of purpose fell into scientific disfavor. … Of course, the fact that science generally does not make use of the concept of ultimate purpose in no way suggests it is not meaningfull or important.“ (Del Ratzsch, Science & Its Limits. The Natural Sciences in Christian Perspective, 2. Auflage, IVP, Downers Grove 2000, 95)
„… science cannot validate either scientific method itself or the presuppositions of that method. Consider, for instance, the principle of the uniformity of nature. As discussed earlier this principle does not appear to be a result of science for the simple reason that it is a presupposition employed in generating results. …This implies that science cannot be the only legitimate basis for believing something.“ (Del Ratzsch, Science & Its Limits. The Natural Sciences in Christian Perspective, 2. Auflage, IVP, Downers Grove 2000, 93)