Die Biographien über Jesus Christus im Neuen Testament sind voller peinlicher Details. Wer denkt, hier wären nette Heldengeschichten oder religiöse Märchen erfunden worden, muss sich fragen, warum solche Peinlichkeiten erzählt werden.
Natürlich könnte es sein, dass die Evangelisten etwas berichten, das in unser Kultur peinlich wäre, nicht aber in der damaligen Kultur. (Z.B. wird von der großen Königin und möglicherweise Göttin Medb in altirischen Sagen berichtet, wie sich vor dem Zelt aufs Klo ging – ohne Klo, natürlich. Offenbar kein großes Problem für die Kultur.)
Aber die Evangelien berichten Vieles, das ihrer eigenen Zeit peinlich war. In der griechisch-römischen Zeit, galt Ehre alles. Kein Kaiser, kein Senator oder General hätte solche peinliche Wahrheiten über seine Freunde und seine Misserfolge in Umlauf gebracht.
Peinliches über Jesus
Der Held der Evangelien wird von der Regierung und der Elite, von den frömmsten Gläubigen abgelehnt. Die mit der meisten Ehre spucken auf ihn.
Dann spuckten sie ihm ins Gesicht und schlugen ihn mit Fäusten. Andere gaben ihm Ohrfeigen. (Mt 26,67)
Natürlich würdigt ein römischer Statthalter einen verachtenswerten und rebellischen Barbaren nicht, indem er ihn anspuckt. Das erledigen seine Soldaten für ihn:
Dann spuckten ihn an, nahmen ihm den Stock wieder weg und schlugen ihn damit auf den Kopf. (Mt 27,30)
Der Held wird zum Tod am Kreuz verurteilt. Er wird gefoltert und nackt angenagelt und dann verliert er seine stoische Gelassenheit und ruft verzweifelt:
Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen? (Matthäus 27,46)
Der Held stirbt am Kreuz. Das war der schlimmste Tod, der nur für Sklaven und Rebellen reserviert war. Ein gepflegter Römer sollte das Wort Kreuz nicht mal in den Mund nehmen.
Nach dem Begräbnis wird berichtet, dass einige Frauen ihn als Auferstandenen gesehen haben. Weshalb dieses – aus damaliger Sicht – irrelevante und wertlose Information? Frauen wurden nicht als zuverlässige Zeuginnen angesehen.
Es waren Maria aus Magdala und Johanna und Maria, die Mutter von Jakobus, sowie die anderen Frauen, die mit ihnen am Grab gewesen waren. Als die Frauen den Aposteln sagten, was sie erlebt hatten, hielten die es für leeres Gerede und wollten ihnen nicht glauben. (Lukas 24,10-11)
Die Reaktion der Apostel war für die damalige Kultur normal. Die Peinlichkeit besteht darin, dass die Evangelisten von der Aussage der Frauen berichten.
Die peinliche Reaktion der Apostel nach der Auferstehung liegt darin, dass die eigenen Schüler ihrem Lehrer Jesus und seinen Botinnen nicht glaubten. Damit hörten sie nicht einmal völlig auf, als sie ihn selbst als Auferstandenen vor sich sahen:
Und als sie ihn sahen, fielen sie vor ihm nieder; einige aber zweifelten. (Matthäus 28,17)
Peinliches über die Jünger
Schon vor dem Tod und der Auferstehung war es peinlich: Jesus weiß, was auf ihn zukommen wird und verzweifelt im Garten Gethsemane, er klagt und fleht Gott um Hilfe an. Ohne Erfolg.
In den Garten hatte er seine besten Freunde zur Unterstützung mitgenommen. Aber die schlafen einfach ein (Markus 14,37). Sie lassen ihren Herrn und Meister in seiner schlimmsten Stunde im Stich. Sie werden sehr oft als Versager beschrieben.
- Sie kapieren nicht, was er sagt.
Jesus hörte es und sagte zu ihnen: »Was macht ihr euch Sorgen darüber, dass ihr kein Brot habt? Versteht ihr denn noch immer nicht? Begreift ihr denn gar nichts? Seid ihr genauso verstockt wie die anderen? (Markus 8,17)
Oft ist das verständlich, denn Jesus sagte manchmal richtig skandalöse Dinge wie
… und es gibt Verschnittene, die sich selbst verschnitten haben um des Himmelreiches willen. (Matthäus 19,12)
Das bedeutet: Manche Menschen entscheiden sich bewusst dafür, Single zu sein und das ist für Jesus völlig in Ordnung – aber für seine Kultur war das völliger Wahnsinn.
Liebt eure Feinde und bittet für die, die euch verfolgen … (Matthäus 5,44)
Seiner Schüler verstehen nicht, was er will und sind im Rachedenken ihrer damaligen Kultur gefangen:
„Als aber das die Jünger Jakobus und Johannes sahen, sprachen sie: Herr, willst du, so wollen wir sagen, dass Feuer vom Himmel falle und sie verzehre.“ (Lukas 9,54)
Sie streben nach Größe, aber Jesus sagt:
Wer unter euch am größten ist, soll euer Diener sein. (Matthäus 23,11)
Seine Jünger wollen sich die Ehrenplätze neben Jesus reservieren, aber er sagt:
Wer es auf sich nimmt, vor den Menschen so klein und unbedeutend dazustehen wie dieses Kind, ist in der neuen Welt Gottes der Größte. (Matthäus 18,4)
Die Schüler und Freunde missverstehen Jesus immer und immer wieder.
Aber wer hat diese Geschichten erzählt und aufgeschrieben? Wie kamen sie in Umlauf?
Peinliches über Petrus
Petrus tritt oft als Sprecher für die Schülertruppe von Jesus auf, daher gibt es besonders viel Peinliches über ihn.
Er prescht mutig voraus und steigt aus dem Boot:
Als er dann aber die hohen Wellen sah, bekam er Angst. Er begann zu sinken und schrie: »Hilf mir, Herr!« Sofort streckte Jesus seine Hand aus, fasste Petrus und sagte: »Du hast zu wenig Vertrauen! Warum hast du gezweifelt?« (Matthäus 14,30-31)
Matthäus war ein Freund von Petrus, nach allem was sie gemeinsam mit Jesus erlebt hatten.
Aber was sagt Petrus selbst? Nach neueren Forschungen geht das Markusevangelium auf Petrus zurück. Wenn das stimmt, dann hat Petrus selbst Markus diese Jesus-Geschichten berichtet:
In Kapitel 8 will Petrus Jesus von seiner Mission abbringen.
„Jesus sagte ihnen das ganz offen. Da nahm Petrus ihn beiseite, fuhr ihn an und wollte ihm das ausreden. Aber Jesus wandte sich um, sah die anderen Jünger und wies Petrus scharf zurecht. »Geh weg!«, sagte er. »Hinter mich, an deinen Platz, du Satan! Deine Gedanken stammen nicht von Gott, sie sind typisch menschlich.« (Markus 8,32-33)
In Kapitel 9 kriegt Petrus einen Einblick in Gottes Herrlichkeit, aber er fangt an, irgendwas von Zelten und Hütten zu faseln.
Da sagte Petrus zu Jesus: »Wie gut, dass wir hier sind, Rabbi! Wir wollen drei Zelte aufschlagen, eins für dich, eins für Mose und eins für Elija.« Er wusste nämlich nicht, was er sagen sollte, denn er und die beiden andern waren vor Schreck ganz verstört. (Markus 9,4-5)
In Kapitel 14 sagt Jesus voraus, dass alle Jünger davon laufen werden. Aber Petrus protestiert:
Jesus antwortete: »Ich versichere dir: Heute, in dieser Nacht, bevor der Hahn zweimal kräht, wirst du mich dreimal verleugnen und behaupten, dass du mich nicht kennst.« Da sagte Petrus noch bestimmter: »Und wenn ich mit dir sterben müsste, ich werde dich ganz bestimmt nicht verleugnen!« (Markus 14,30-31)
Nur stimmt das nicht:
Aber Petrus schwor: »Gott soll mich strafen, wenn ich lüge! Ich kenne den Mann nicht, von dem ihr redet.« In diesem Augenblick krähte der Hahn zum zweiten Mal, und Petrus erinnerte sich daran, dass Jesus zu ihm gesagt hatte: »Bevor der Hahn zweimal kräht, wirst du mich dreimal verleugnen und behaupten, dass du mich nicht kennst.« Da fing er an zu weinen.
Wenige Stunden nach seinem Treueschwur behauptet Petrus, dass er Jesus überhaupt nicht kennt! Dann fängt er auch noch an zu weinen. Für die damalige Kultur war das alles sehr, sehr peinlich.
Petrus war immerhin der erste menschliche Leiter der Jesus-Truppe. Niemand würde so einen als Helden erfinden oder zulassen, dass solche Geschichten über ihn in Umlauf gebracht werden – außer sie sind so schonungslos ehrlich wie die Jesus-Leute, wie Petrus.
Die schonungslos ehrlichen Autoren
Die Autoren sind ehrlich, sie berichten wahrhaftig. Die peinliche Wahrheit über Jesus und seine Schüler wird nicht vertuscht.
Sie hatten kein Interesse daran, die Geschichte zu frisieren, zu schönen. Wenn jemand so was Peinliches über sich selbst und seine Helden sagt, dann steigert das seine Glaubwürdigkeit enorm.
Wieso sollten diese Autoren nur die Misserfolge, Peinlichkeiten und Skandale ehrlich berichten?
Es ist viel plausibler, dass sie dachten: „Ja, das war schrecklich am Kreuz – aber da Jesus ja alle Schuld und Scham und Schande auf sich genommen und ausgelöscht. Ja, wir waren peinlich und wir sind es immer noch – aber es ist so wunderbar, dass ich diesen Jesus kenne. Der hat mich mit meiner ganzen Peinlichkeit angenommen.“
Deswegen mussten sie nichts vertuschen oder erfinden. Sie berichteten wahrhaftig. Ganz ehrlich.
Natürlich lohnt es sich dann noch zu fragen: Was ist ihr historischer Anspruch – Märchenbuch oder Geschichtsschreibung? Waren sie nahe genug dran? Welches Weltbild hatten sie und wie gut passt es zur Realität?
Aber es ist eine Sackgasse, ihnen böse Motive oder Unehrlichkeit zu unterstellen. Die peinliche Wahrheit der Evangelien belegt ihre Ehrlichkeit.
Mehr
Stefan Gustavsson, Kein Grund zur Skepsis! Acht Gründe für die Glaubwürdigkeit der Evangelien, Neufeld Verlag, Cuxhaven 2018, 142-149.
Alisa Childers, Ankern. Eine Verteidigung der biblischen Fundamente in postmodernen Gewässern, fontis 2021, besonders Kapitel 8 „War es nur ihre persönliche Wahrheit?“ (157-175)