Die Info-Weitergabe über Jesus war keine Stille Post – jedenfalls nicht so, wie man zuerst denkt. Die Informationen über Jesus stammen aus dem Neuen Testament. Vor ihrer Niederschrift wurden sie mündlich weitergegeben. Es gab also eine mündliche und eine schriftliche Phase in der Überlieferung der Jesus-Berichte.
Für beide Phasen können wir überlegen, ob die Informationen über Jesus richtig weitergegeben wurden. Wir fragen: Wurden die Informationen über Jesus im Laufe der Weitergabe verändert?
Oft wird dabei an ein Stille-Post-Spiel gedacht. Eine Person flüstert einer anderen ein Wort oder einen Satz ins Ohr. Diese Person macht es mit der nächsten genauso. Wenn genügend Leute mitspielen, kommt oft am Ende eine lustige Veränderung raus.
Wieso Stille-Post-Spiele lustig sind
Eine Variante des Spiels konnte ich an einem Abend mit kreativen Beiträgen auf einem Treffen mit über hundert Leuten beobachten. Sechs Freiwillige mussten den Raum verlassen. Der erste kam herein und durfte eine komplizierte Zeichnung mit vier Bildern betrachten: Ein Zimmer mit Möbeln und Obstschale. Ein Teddybär mit der Aufschrift: „Bier“. Ein Blumenstrauß. Ein Gesicht mit einer unnatürlichen Anzahl Ohren. Das Bild wurde versteckt und der zweite Freiwillige kam herein. Der erste versuchte, dem zweiten das Bild zu erklären. Und so ging es bis zum letzten.
Für die Freiwilligen war es sehr schwer. Aber für das Publikum war es sehr lustig. Immer wieder konnte man Lachen hören oder einen Satz wie: „Jetzt hat er die Ohren vergessen!“
Warum sind diese Spiele lustig? Weil 100 Leute sofort merkten: Hier haben die Freiwilligen wieder etwas verändert. Natürlich wusste nicht jeder vom Publikum alle Details. Aber als Gruppe war das ganze Wissen vorhanden.
Stille Post-Spiele sind lustig, weil die Wahrheit bekannt ist. Wenn niemand sich an die ursprüngliche Information erinnern könnte, wäre ein Spiel undenkbar. Gelacht wird, eben weil die Information nicht so schnell verloren geht.
Bei Stille-Post gibt es also zwei Gruppen: ein Publikum und die Freiwilligen. Die Freiwilligen sorgen mit ihren Überlieferungsfehlern für die Unterhaltung des Publikums. Das Publikum ist „erinnerungsmächtig“. Die Freiwilligen werden in eine Situation gebracht, die Vergesslichkeit fördert.
(In der klassischen Variante ist der Spielleiter zunächst vielleicht der einzige im Publikum. Aber später werden alle eingeweiht.)
Die Stille-Post-Situation der mündlichen Phase
Vor der Verschriftlichung wurden Informationen über Jesus mündlich weitergegeben. Aber konnten diese Berichte einfach verändert werden? Wer immer diese Berichte weitergab, sah sich mit einer großen Gruppe von Beobachtern konfrontiert. Jesus hat vor viele Menschen gelehrt und gewirkt. Wer die Informationen über ihn verändert hätte, wäre in der Situation der Stille-Post-Freiwilligen geraten.
Die anderen hätten gelacht und gesagt: So war das aber nicht!
Es ist bezeichnend, dass alternative Berichte von Jesus erst in einer Zeit entstehen, in der die ursprünglichen Zeugen nicht mehr lebten. (Siehe der Abschnitt „Jesus-Fiktionen“ in diesem Beitrag.)
Wenn es eine Stille-Post-Situation in der mündlichen Überlieferungsphase gegeben hätte, wären die Veränderer in der „Freiwilligen-Gruppe“ gewesen und die „Publikums-Gruppe“ hätte ihre Fehler korrigiert.
Die Stille-Post-Situation der schriftlichen Phase
Nach der Niederschrift der Informationen über Jesus gab es zwei Situationen: Zunächst lebten die ursprünglichen Zeugen noch. Jede Veränderung in den Niederschriften wäre wieder durch diese „Publikums-Gruppe“ aufgedeckt und korrigiert worden.
Später übernahmen die zahlreichen schriftlich vorliegenden Berichte oder Abschriften diese Funktion. Auch hier gab es eine ausreichend große „Publikums-Gruppe“ um Veränderungen zu entlarven. Denn die Texte des Neuen Testaments wurden schnell und oft abgeschrieben und verbreitet.
Die schriftliche Überlieferung des Neuen Testamentes gehört auch aus weiteren Gründen nicht in zur „Freiwilligen-Gruppe“ eines Stille-Post-Spiels.
Das Neue Testament ist in der „Publikums-Gruppe“ des Stille-Post-Spiels
Wenn schon an eine Stille-Post-Situation gedacht wird, dann gehören die Informationen über Jesus gehören zur Publikums-Gruppe!
In der Freiwilligen-Gruppe wird die normale Weitergabe von Informationen bewusst schwierig gemacht. Sonst wird ja kein lustiges Spiel draus. Deswegen wird nur geflüstert, fehlen Zusammenhänge, wird nicht nachgefragt, werden keine weiteren Personen befragt.
In natürlichen Kommunikationssituationen gibt es viele Faktoren, die Informationen stabilisieren. Hier muss niemand dauernd flüstern. Die Gespräche haben historische, kulturelle und persönliche Kontexte. Es ist normal nachzufragen: Hab ich das richtig verstanden? Es können viele andere Zeugen gefragt werden: Was hast Du gesehen und gehört?
Genau diese Freiheiten bestanden für alle, die Informationen über Jesus hörten und weitergaben.
Die vielen Zeugen helfen uns dabei, diesen Informationen zu vertrauen. Deswegen konnten die Schüler von Jesus sagen:
Der König weiß, wovon ich rede, und mit ihm kann ich frei und offen darüber sprechen. Ich bin überzeugt, dass ich ihm auch gar nichts Neues sage; denn die Sache hat sich ja nicht irgendwo im Winkel abgespielt. (Paulus in Apostelgeschichte 26,26)
Jesus von Nazaret wurde von Gott bestätigt durch die machtvollen und staunenerregenden Wunder, die Gott durch ihn unter euch vollbracht hat; ihr wisst es selbst. (Petrus in Apostelgeschichte 2,22)
Später sahen ihn über fünfhundert Brüder auf einmal; einige sind inzwischen gestorben, aber die meisten leben noch. (Paulus zitiert eine Formulierung der frühesten Jesus-Gläubigen in 1.Korinther 15,6)
Die ursprünglichen Infos blieben erhalten. Die vielen Zeugen helfen uns dabei, dem Text zu vertrauen. Wenn wir das mit einem Stille-Post-Spiel vergleichen, können wir sagen: Nicht die Freiwilligen sind das Neue Testament. Das Publikum, die hundert Leute, die sich amüsieren können, wenn etwas geändert wird, sind die Bibel. Die Überlieferungsgemeinschaft sagt: „Wir haben hunderte Zeugen, da kannst Du nicht einfach was ändern, da lachen doch alle.“ Das ist ein guter Grund, der Überlieferung der Information über Jesus zu vertrauen.