Spricht unsere unstillbare Sehnsucht für die Existenz Gottes? Ist unsere Sehnsucht ein Argument für Gott?
Menschen haben viele Sehnsüchte, die über Grundbedürfnisse hinausgehen: Sehnsucht nach Wahrheit, nach Harmonie, nach Frieden, nach Heimat und Verwandlung zum Guten.
Das erleben wir nicht nur „alle heiligen Zeiten“ einmal (wie z.B. zu Weihnachten).
Viele Bergsteiger erleben es immer wieder: Am Gipfel eines Berges nach unten zu sehen, wo Wolken und Dohlen fliegen, ist wunderschön. Aber wieso finden Menschen so etwas schön? Der Gipfel vieler Berge ist eine Todeszone. Genauso seltsam ist die Schönheit von Wüsten oder giftigen Pflanzen und Tieren. Dass wir das schön finden, ist rätselhaft.
Menschen erfahren quer durch die Geschichte etwas, das unsere Welt übersteigt.
Viele Leute erleben auf dem Berg (oder vor dem Berg oder in der Wüste…) etwas, das unsere Existenz irgendwie übersteigt. Aber noch rätselhafter ist Folgendes: Es ist nie genug.
Jean-Paul Sartre (oder vielleicht war es auch Aldous Huxley?) soll gesagt haben:
„Irgendwann kommt die Zeit, in der man sogar Shakespeare und Beethoven fragt: ‚Ist das alles, was es gibt?‘“
Wir haben eine Sehnsucht nach immer noch mehr: Mehr Schönheit. Mehr Harmonie und Liebe. Viel mehr Liebe. Mehr Sinn. Woher kommt das? Woher kommt jede Sehnsucht? Und deutet eine „übernatürliche Sehnsucht“ auch auf die Existenz Gottes hin?
Gedanken in diese Richtung wurden schon von Augustinus und Blaise Pascal formuliert. Im 20. Jahrhundert wurde das Argument aus der Sehnsucht durch C.S. Lewis bekannter gemacht.
Das Argument für die Existenz Gottes aus der Sehnsucht
Sehnsucht kann zu diesem Argument für Gott werden (ähnliche Formulierungen bei Schnurr 2016 und Kreeft/Tacelli, 78):
(1) Jede Sehnsucht wird durch etwas Reales ausgelöst, das diese Sehnsucht erfüllen kann. (2) Es gibt eine Sehnsucht, die durch nichts auf dieser Welt erfüllt werden kann. (3) Es gibt etwas Reales jenseits dieser Welt, das diese Sehnsucht erfüllen kann.
Die Quelle jeder Sehnsucht
Stimmt Prämisse (1)? Wird jede Sehnsucht durch etwas Reales ausgelöst? Und ist dieser Auslöser dann in der Lage, die Sehnsucht zu erfüllen?
Denken wir als Beispiel an Durst. Durst ist Sehnsucht nach Wasser, nach Trinken.
Durst gibt es, weil es Wasser gibt und wir Menschen Wasser brauchen. Wasser löst die Sehnsucht aus, die wir Durst nennen. Und Wasser ist in der Lage, unsere Wasser-Sehnsucht zu erfüllen, also unseren Durst zu stillen.
Wenn wir durstig sind, beweist das, dass wir Wesen sind, für die es normal ist, Wasser zu trinken. Sehnsucht nach Wasser beweist nicht, dass ich bald trinken werde. Aber es beweist, dass es in der Welt irgendwann mal Wasser gegeben hat. Und dass Menschen wie ich so etwas irgendwann erlebt haben. Sonst gäbe es diese Sehnsucht nicht.
Genauso ist es mit der Sehnsucht nach Essen (Hunger), Schlaf (Müdigkeit) oder Ansehen (Ruhm(sehn)sucht).
Das legt nahe, dass Prämisse (1) gilt: Jede Sehnsucht wird durch etwas Reales ausgelöst, das diese Sehnsucht erfüllen kann.
Die unstillbare Sehnsucht nach mehr
Stimmt Prämisse (2)? Gibt es eine Sehnsucht, die durch nichts auf der Welt erfüllt werden kann? So könnte unsere unstillbare Sehnsucht zu einem Argument für Gott werden, denn Gott ist kein Ding innerhalb dieser Welt.
Viele Menschen erleben tiefe Sehnsucht nach viel mehr, als es auf dieser Welt gibt.
Wir sehnen uns zum Beispiel nach
- Absoluter Gerechtigkeit, die „das vergangene Elend […] gutmacht und die Not in der umgebenden Natur […] aufhebt“ (Max Horkheimer).
- Umfassender Rechtfertigung, Vergebung, Versöhnung.
- Grenzenloser Liebe.
- Zeitlicher Unendlichkeit.
- Ewigem Sinn.
- Unvergänglicher Schönheit.
Diese Sehnsucht ist real und sie hat weder eine naturalistische Erklärung noch eine natürliche Erfüllung.
C.S. Lewis, der englische Literaturwissenschaftler, Professor in Oxford und christlicher Denker fragt am Ende von „Reflections on the Psalms“, ob es nicht seltsam ist, dass wir vom Vergehen der Zeit überrascht sind. Ein Fisch ist auch nicht überrascht, dass Wasser nass ist. Außer, der Fisch wäre eigentlich als Landlebewesen gedacht:
„Das ist genauso seltsam, wie wenn ein Fisch sich immer wieder über die Nässe des Wassers wundern würde. Und das wäre wirklich sehr seltsam, es sei denn freilich, es wäre dem Fisch bestimmt, eines Tages zu einem Landtier zu werden.“ (C.S. Lewis, Das Gespräch mit Gott: Beten mit den Psalmen, Brunnen Verlag, Gießen 2016)
Eine reale Sehnsucht nach mehr
Der Mathematiker und Philosoph Blaise Pascal hat von einem „unermesslichen Abgrund“ in uns gesprochen. Wir versuchen ihn mit allem möglichem zu füllen, aber ohne Erfolg:
„Alle Menschen suchen nach dem Glück. … Und dennoch ist niemand seit so vielen Jahren jemals ohne den Glauben zu diesem Punkt gelangt, nach dem alle beständig streben. Alle beklagen sich, Fürsten, Untertanen, Adlige, Gemeine, Greise Jünglinge, Starke, Schwache, Gelehrte, Unwissende, Gesunde, Kranke aller Länder, aller Zeiten, aller Lebensalter und aller Stellungen.
Eine so lange, so beständige und so einheitliche Probe sollte uns doch von unserer Unfähigkeit überzeugen, das Glück durch unsere eigene Anstrengung zu erreichen.“ (Gedanken, 148/425)
Aber sind das überhaupt reale Sehnsüchte nach realen Objekten?
Gegen den Einwand, alle diese Sehnsüchte oder ihre Objekte seien nicht real, spricht die unmittelbare Erfahrung vieler Menschen. Wir suchen Erfüllung in Dingen, die uns dann doch nicht erfüllen. Die Sehnsucht bleibt. Die Sehnsucht ist also real.
Es gibt keine naturalistische Erklärung dieser Sehnsucht.
Ein möglicher Einwand gegen Sehnsucht als Argument für Gott lautet:
„Die Natur erklärt alles.“
Wie kann die Vorstellung von Perfektion aus der Natur kommen?
Absolute Gerechtigkeit, umfassende Rechtfertigung (Vergebung, Versöhnung), grenzenlose Liebe, Unendlichkeit, Sinn und unvergängliche Schönheit – das sind alles Dinge, die es auf unserer Welt gar nicht gibt.
Eine naturalistische Erklärung müsste evolutionäre Vorgänge belegen, die uns dazu bringen, diese Sehnsucht zu haben. Das scheitert jedoch. Wer zum Beispiel behauptet, Religion wäre aus Angst vor Geistern entstanden, müsste auch erklären, wie Angst vor Geistern entsteht – sicher nicht aus Angst vor Tigern oder Ehrfurcht vor Häuptlingen.
Nur Menschen fürchten tote Angehörige (vgl. Markos 28-32). Religion kommt wennschon aus Angst vor dem Übernatürlichen – das es jedoch für den Naturalismus nicht gibt.
Wieso hätte die Natur uns „reingelegt“ (und uns dazu gebracht, uns nach etwas zu sehnen, das es dann gar nicht gäbe)?
Ideen wären entstanden, die nichts mit der vor uns liegenden, rein naturalistisch verstandenen Wirklichkeit zu tun hätten – wozu? Und wie? Das bleibt offen.
Ein anderer möglicher Einwand gegen diese Gedanken lautet:
„Das ist alles Wunschdenken.“
Woher kommt unser Wunsch?
Eine psychologische Erklärung könnte auf Wunschdenken hinweisen. Menschen hätten angefangen, an Übernatürliches zu glauben, weil sie den Wunsch danach gehabt hätten. Diese Erklärung erklärt wieder zu wenig: Wie sollte die unbewusste Natur in uns einen Wunsch nach Übernatürlichem auslösen?
Ein Wunsch spricht nicht gegen die Existenz des Gewünschten.
Wenn ich mir etwas wünsche, spricht das nicht dagegen, dass der Wunsch in Erfüllung gehen kann.
Der „Feuerbach’sche Fehlschluss“ versteht die Gedanken des Philosophen Ludwig Feuerbach so: Menschen wünschen sich einen Gott, also gibt es Gott nicht. Doch das ist ein Fehlschluss, sonst gälte auch folgender Satz: Menschen wünschen sich, dass es keinen Gott gibt, also gibt es Gott wirklich.
Der Wunsch sagt noch nichts über die Tatsächlichkeit seiner Erfüllung aus. Aber etwas über ihre Möglichkeit.
Die Natur hat uns also nicht reingelegt.
Sie hat unsere Sehnsucht nicht ausgelöst. Diese Sehnsucht gibt es aber, sie ist real. Daher ist ihr Auslöser nicht in der Natur zu finden.
Es gibt keine Erfüllung in der Natur.
Unsere Sehnsucht nach mehr wird auch nicht durch die Natur erfüllt.
Pascal weist auf unsere menschliche Suche nach Glück hin und die „so lange, so beständige und so einheitliche Probe“ ihres Misserfolgs.
Kreeft und Tacelli schreiben zu Versuchen, die menschliche Sehnsucht beispielsweise durch mehr Geld, mehr Dinge, Macht oder Sex zu befriedigen:
„… Milliarden von Menschen haben Billionen von derartigen Experimenten durchgeführt oder führen sie gerade durch, und suchen verzweifelt die Erfüllung, die sie begehren aber nicht erlangen. Denn selbst wenn sie die ganze Welt gewönnen, wäre es nicht genug, um ein Menschenherz zu erfüllen. … Nach Billionen von Misserfolgen und einer einhundertprozentige Fehlerquote ist das ein Experiment, das niemand weiterhin durchführen sollte.“ (Kreeft/Tacelli, 80-81)
Das heißt: Es gibt eine Sehnsucht, die durch nichts auf dieser Welt erfüllt werden kann.
Die Quelle jenseits dieser Welt
Der Schluss ist: Es gibt diese Quelle von Gerechtigkeit, Versöhnung, Liebe, Sinn, Schönheit jenseits dieser Welt.
Es gibt etwas Reales jenseits dieser Welt, das diese Sehnsucht erfüllen kann.
Pascal ist überzeugt, dass der Abgrund in uns
„nur durch etwas Unendliches und Unwandelbares ausgefüllt werden kann, das heißt, durch Gott selbst.“ (Gedanken, 148/425; vgl. Markos 2010, 28)
Für ihn ist klar: Unsere Sehnsucht weist auf den Verlust dessen hin, der uns erfüllt.
„Was rufen uns denn diese Gier und diese Unfähigkeit zu, wenn nicht dies, daß es einst im Menschen ein wahres Glück gegeben hat, von dem ihm jetzt nur das Zeichen und die ganz wesenlose Spur geblieben sind und die er nun vergebens mit allem auszufüllen trachtet, was ihn umgibt, wobei er von den fernen Dingen die Hilfe erwartet, die er von den gegenwärtigen nicht erhält, doch sie alle sind dazu nicht fähig, weil dieser unendliche Abgrund nur durch etwas Unendliches und Unwandelbares ausgefüllt werden kann, das heißt durch Gott selbst.“ (Gedanken, 148/425)
Unsere Sehnsucht garantiert nicht, dass wir diese Quelle erreichen und so Erfüllung finden. Aber unsere Sehnsucht zeigt, dass wir Wesen sind, die diese Erfüllung erfahren können (vgl. Markos 2010, 26). Sie beruht auf etwas, das es wirklich gibt, jenseits dieser Welt.
Dieses Argument zeigt, dass reiner Naturalismus eine Sackgasse ist. Es gibt uns eine Suchrichtung nach mehr. Wir suchen nach einer unendlichen Quelle der Gerechtigkeit, Vergebung, Liebe und Schönheit.
Der englische Literaturwissenschaftler und Autor C.S. Lewis hat immer wieder diese tiefe Sehnsucht gespürt. Er sagt:
„Es gibt kein Verlangen, für das es keine Befriedigung gibt. Ein Säugling hat Hunger, und er bekommt sein Fläschchen. Eine Ente will schwimmen, und da gibt es Wasser. Menschen finden sich durch den Eros begehrenswert, und es gibt die geschlechtliche Vereinigung. Wenn in uns ein Verlangen lebt, das durch nichts auf dieser Welt gestillt werden kann, so geht doch wohl daraus hervor, dass der Mensch für eine jenseitige Welt erschaffen ist. Das Weltall ist noch lange kein Schwindel, nur weil keine irdische Freude dies Verlangen stillen kann. Wahrscheinlich sind irdische Freuden gar nicht dazu da, dies Verlagen zu stillen, sondern eher, um es zu wecken. Sie sind ein Abglanz der Vollkommenheit aller Dinge.“ (C.S. Lewis, Pardon, ich bin Christ, Brunnen Verlag, Basel 1977, 109)
Ohne Gott ist unsere Sehnsucht nach mehr, als diese Welt bietet, ein unerklärliches Rätsel. Aber mit Gott haben wir Hoffnung auf Erfüllung.
Der christliche Denker Augustinus hat behauptet:
„Du hast uns zu Dir hin geschaffen und unruhig ist unser Herz, bis es Ruhe findet, Gott in Dir“.
Wenn Gott uns „zu sich hin geschaffen“ hat, wird nur seine Liebe uns erfüllen.
Wenn das stimmt, wird nur Gottes Liebe uns persönlich erfüllen. Wir Menschen fragen nach viel mehr, als diese Welt zu bieten hat. Und die Antwort Gottes aus christlicher Sicht lautet:
„Ich bin gekommen damit sie das Leben im Überfluss haben.“ (Jesus in Johannes 10,10)
Das ist kein leeres Versprechen. Es gibt tausende wissenschaftliche Studien, die zeigen, dass es Gläubigen Menschen statistisch gesehen persönlich besser geht.
Unsere Sehnsucht nach mehr findet ihre Erklärung und Erfüllung in Gott. Unsere Sehnsucht ist ein Argument für Gott. Sie spricht für die Existenz Gottes und macht Hoffnung auf ihre Erfüllung.
MEHR
Mehr zu Lewis und seiner Sehnsucht nach mehr in diesem Vortrag von Dr. Fabian Grassl: Gottesahnung – C.S. Lewis und der Zauber der Apologetik
Literatur
Louis Markos, Apologetics for the Twenty-First Century, Crossway, Wheaton 2010, besonders Kapitel 2: „The Things that could not have evolved: C.S. Lewis argues for the existence of God.“ (25-32)
J.P. Moreland, The Image of God and the Failure of Scientific Atheism, in: William Lane Craig, Chad Meister, Hg, God is great, God is good: why belief in God is reasonable & responsible, IVP, Downers Grove, IL und Nottingham, 2009, 32-48.
Jan Carsten Schnurr, Wie wahrscheinlich ist Gottes Existenz? Zur Diskussion um die Gottesbeweise, 21.08.2016, https://www.iguw.de/site/assets/files/1504/schnurr_-_wie_wahrscheinlich_ist_gottes_existenz.pdf (13.08.2020)
Peter Kreeft, Ronald K. Tacelli, Handbook of Christian Apologetics, IVP, Downers Grove 1994. (Kreeft/Tacelli behandeln das Sehnsuchtsargument auf den Seiten 78-81.)
C.S. Lewis, Das Gespräch mit Gott: Beten mit den Psalmen, Brunnen Verlag, Gießen 2016.
C.S. Lewis, Pardon, ich bin Christ, Brunnen Verlag, Basel 1977.
Originalzitat Kreeft/Tacelli:
„… billions of people have performed and are even now performing trillions of such experiments, desperately seeking the ever-elusive satisfaction they crave. For even if they won the whole world, it would not be enough to fill one human heart… After trillions of failures and a one hundert percent failure rate, this is one experiment no one should keep trying.“ (Kreeft/Tacelli, 80-81)
Lewis über unendliche Freude und unsere oft zu kleinen Wünsche:
„Wir sind halbherzige Geschöpfe, die sich mit Alkohol, Sex und Karriere zufrieden geben, wo uns unendliche Freude angeboten wird – wie ein unwissendes Kind, das weiter im Elendsviertel seine Schlammkuchen backen will, weil es sich nicht vorstellen kann, was eine Einladung zu Ferien an der See bedeutet. Wir geben uns viel zu schnell zufrieden.(C.S. Lewis, Das Gewicht der Herrlichkeit, in: Der innere Ring, Brunnen Verlag, Basel 1982, 93-94)
Christlicher Theismus und Sehnsucht
Das Weltbild der Bibel spricht unsere Sehnsüchte und Hoffnungen an.
Die ganze Schöpfung erlebt Sehnsucht: „Die ganze Schöpfung wartet sehnsüchtig auf den Tag, an dem die Kinder Gottes vor aller Augen in dieser Herrlichkeit offenbar werden.“ (Römer 8,19)