Relativismus bedeutet: Alles ist relativ. Alles hängt von etwas anderem ab. Es gibt nichts Absolutes, Bedingungsloses, Sicheres, Verbindliches. Es gibt dann auch nicht „die Wahrheit“. Relativismus bedeutet: Es gibt die Wahrheit nicht.
Diese Vorstellung prägt viele Menschen heute. Wie kommt es dazu?
Wie der Relativismus zum Durchbruch kam
Im Zeitalter und in der Geisteshaltung der Moderne soll die Vernunft zur absoluten Wahrheit führen. Meistens erhofft man sich das von Logik und Wissenschaft. Ein wunderbares Symbol für diese Vorstellung ist die Titanic. Sie war der Gipfel der Ingenieurskunst. Die genialste Frucht der vernunftbasierten Wissenschaft. Aber sie ist untergegangen.
Genauso ist die „Vernunft- und Wahrheits-Titanic“ der Moderne im 20. Jahrhundert untergegangen: „Die Wahrheit“ der Moderne hat das Siegen verlernt. Ihr Siegermythos wurde durch Krieg und Leid leck geschlagen. Ihre theoretischen Fundamente wurden durchleuchtet. Dabei kam für manche raus: Die reine Vernunft war eine Illusion, die oft zur Verschleierung von Macht diente.
Deswegen wurde „die Wahrheit“ der Moderne schließlich aufgegeben. Nietzsche bringt es auf den Punkt:
„Wir haben den Horizont weggewischt.“ (Friedrich Nietzsche, Die fröhliche Wissenschaft II.125)
Als Menschen des 21. Jahrhunderts reagieren wir instinktiv allergisch gegen „Die Wahrheit“. Sind es nicht die religiösen Fundamentalisten, die im Namen einer unerbittlichen und absoluten Wahrheit Terroranschläge auf unschuldige Zivilisten begehen? Sind es nicht politische Extremisten, die im Namen einer ewigen Wahrheit verbrecherische Regimes installieren?
Die Antwort auf diese Fragen lautet natürlich „Ja“. Aber muss man diese abscheulichen Verbrechen der „Wahrheit“ zur Last legen? Ist „Wahrheit“ tatsächlich ein Machtinstrument, ein Gewaltmittel oder ein kindlicher Schutzmechanismus gegen die tatsächliche Unbestimmtheit und Grenzenlosigkeit des Lebens?
Wahrheit kann dazu werden, ohne überzeugte Bescheidenheit und ehrliche Offenheit. Die Wahrheit für das Fehlen dieser Haltung verantwortlich zu machen, ist ein moderner Gedanke.
Aber so neu war die Ablehnung von Realität, Erkenntnis und Kommunikation gar nicht.
Relativismus ist schon sehr alt
Bereits vor Jahrtausenden wurde „die Wahrheit“ hinterfragt. Ein sehr frühes Beispiel ist der griechische Redner und Denker Gorgias:
„Erstens, es gibt nichts; zweitens, wenn es auch etwas gäbe, wäre es doch für den Menschen unerkennbar; drittens, wenn es auch erkennbar wäre, wäre es doch unseren Mitmenschen nicht mitteilbar und nicht verständlich zu machen.“ (Angebliche Thesen des Gorgias, 444-441 v. Chr.)
Und ein weiterer früher Philosoph, Protagoras, hat angeblich den „Homo mensura“-Satz in die Welt gebracht. Das ist die Idee, dass alles, was mir als real vorkommt, von mir abhängt:
„Der Mensch ist das Maß aller Dinge, der seienden, dass sie sind, der nichtseienden, dass sie nicht sind.“ (Hermann Diels, Walther Kranz (Hrsg.): Fragmente der Vorsokratiker 80B1 = Platon, Theaitetos 152a.)
Wenn alles von uns abhängt, wird alles relativ. Relativismus bedeutet, dass es Wahrheit nicht gibt.
Verschiedene Facetten des Relativismus
Relativismus gibt es in verschiedenen Varianten. Gleich bleibt dabei, dass Relativismus bedeutet: Es gibt die Wahrheit nicht.
Die ersten drei Varianten hat (angeblich) bereits Gorgias angesprochenen. Die zwei anderen sind aber auch nicht ganz neu:
- Was gibt es? (Ontologie)
- Was erkennen wir? (Erkenntnistheorie)
- Wie reden wir darüber? (Semantik)
- Was ist richtig? (Ethik)
- Was ist schön? (Ästhetik)
Wahrheit (Ontologischer Relativismus)
Es gibt keine absolute Wahrheit, sondern immer nur Wahrheiten, die mit anderen in Beziehung stehen, für mich, meine eigene Wirklichkeit.
Beispiele:
- „Es gibt keine absolute Wahrheit.“ Das ist ein Satz über die Wirklichkeit, über alles was es gibt. Ausgedrückt wird die Überzeugung, dass alle Wahrheit immer nur von etwas anderem abhängt. (Dieser Satz selbst scheint absolut zu sein.)
- „Das ist meine Wahrheit.“ Dieser Satz behauptet, dass Wahrheit privat ist. Wahrheit könnte für jede Person eventuell etwas ganz anderes sein. (Dieser Satz selbst scheint nicht nur privat zu gelten.) Hier könnte zum Beispiel ein Kontoinhaber seine Kontobewegungen überprüfen. Wenn sein Ergebnis von dem der Bank abweicht, gibt es aus dieser Perspektive plötzlich zwei Wahrheiten. Eine Wahrheit für die Bank und eine für den Nachrechner.
Erkenntnis und Wissen (Epistemischer Relativismus)
Es gibt keine sichere, umfassende Erkenntnis (Wissen), sondern immer nur Perspektiven, Stückwerk, Gefiltertes, Eingefärbtes.
Beispiele:
- Weil ich noch nie in Paris war, kann Paris für mich nicht dasselbe bedeuten wie für jemanden, der dort seine Flitterwochen verbracht hat, oder für jemanden, der dort als Obdachloser lebt. (Auch wenn wir anscheinend verstehen, dass wir vom selben Ort sprechen.)
- „Jede Religion erkennt einen Teil der spirituellen Wahrheit, aber die ganze Wahrheit kann keine sehen.“ (Tim Keller diskutiert diese Aussage in seinem Buch „Warum Gott?“)
- Die fünf Blinden und der Elefant. Diese Geschichte ist ein beliebtes Beispiel für relatives Wissen. Menschen begegnen derselben Realität (= der Elefant), nehmen aber immer nur ganz unterschiedliche Aspekte davon wahr. So kommen sie zu völlig anderen Überzeugungen. Obwohl sie dieselbe Sprache sprechen, gibt es keine Verständigung. In der Geschichte finden sie keine Möglichkeit, den Zugang des jeweils anderen nachzuvollziehen und damit ein umfassenderes Bild der Wirklichkeit zu erlangen. Sie fragen nicht: „Kann ich zu dir rüberkommen und rausfinden, warum du denkst, dass der Elefant ein Speer ist?“
Bedeutung, Kultur, Kommunikation (semantischer Relativismus, kultureller Relativismus, Linguistischer Relativismus)
Unsere Sprache, unsere Kultur färben unser Denken und Handeln. Die Frage lautet: Ist diese Färbung so stark, dass wir unsere Gedanken nicht mehr vergleichen können? Wie unterschiedlich sind unsere Gedanken? Diese Unterschiede sind entweder unerheblich oder unvereinbar (inkommensurabel).
Unerhebliche Unterschiede deuten auf einen Pluralismus hin – wir können uns aber noch verständigen und leben in derselben Realität.
Beispiele für unerhebliche Unterschiede
- Wir sind alle zum selben Ziel unterwegs, aber wir reden und handeln eben unterschiedlich.
„Es ist angemessen, all das, was Menschen verehren, für ein und dasselbe zu halten. … Auf einem einzigen Weg kann man nicht zu einem so erhabenen Geheimnis finden.“ (Symmachus, 384 n.Chr.)
- „Viele Wege führen auf den Gipfel.“ (Diese Aussage macht Sinn für jemanden mit Hubschrauberperspektive. Aus der erhabenen Perspektive kann er alle Wege überblicken.)
- Die Ringparabel: Viele mussten in der Schule „Nathan der Weise“ von Lessing lesen. Ein Teil daraus ist die Ringparabel. Sie wird gewöhnlich so verstanden: „Alle großen Religionen sind gleich wahr und lehren im Grunde dasselbe.“ (Tim Keller diskutiert diese Aussage in seinem Buch „Warum Gott?“) Lessing konnte also mit Röntgenblick ins Innerste aller Religionen blicken.
In diesen Beispielen sind die Einfärbungen oder Differenzen zwar groß, aber wir können sie noch wahrnehmen und untersuchen. Aus dieser Perspektive untersuchen wir die verschiedenen Religionen, die Weltanschauungen. In den Beispielen oben wird behauptet, dass sie letztlich vom Selben sprechen.
Beispiele für unvereinbare Unterschiede:
- „Der religiöse Glaube ist zu sehr ein Produkt der Geschichte und Kultur, um ‚wahr‘ sein zu können.“ (Tim Keller diskutiert diese Aussage in seinem Buch „Warum Gott?“) Diese Aussage scheint zunächst selbst geschichtslos und unabhängig von Kultur zu sein. Sie ist aber ein Produkt der westlich-säkularen Geschichte und Kultur.
- „Man darf seine Kultur/Sprache/Denken anderen nicht überstülpen.“ Diese Überzeugung wird allen Menschen mit anderen Überzeugungen sehr stark nahegelegt. (Oder soll man sagen „übergestülpt“?)
- „Das kannst Du als … gar nicht verstehen, das ist eine ganz andere Welt.“ In der Linguistik wird seit langem ein „linguistisches Relativitätsprinzip“ diskutiert, mit vielen traditionellen Beispielen aus den Sprachen der Inuit oder Hopi. In unserer Zeit wird damit aber auch die Verständigung zwischen Menschen beschrieben, die unterschiedliche Erfahrungen, Herkünfte, Kulturen oder Geschlechter haben. Dennoch gibt es diesen einen Satz, den wir alle verstehen sollen: „Das kannst Du nicht verstehen.“
Schönheit (Ästhetischer Relativismus)
Wir empfinden unterschiedlich, aus vielen Gründen. Schönheit liegt im Auge des Betrachters. Die Geschmäcker sind verschieden. Etwas ist schön für mich, aber deswegen muss es nicht schön für Dich sein.
Beispiele:
- „Vanille ist besser als Erdbeere!“
- „Religion ist eine Geschmacksfrage.“
- „Der Wasserfall ist erhaben!“ bedeutet doch nur: „Ich empfinde ein Gefühl der Erhabenheit.“ (C.S.Lewis diskutiert diese Aussagen in Die Abschaffung des Menschen, 1-2.)
Ethik (Ethischer Relativismus)
Es gibt keine allgemein verbindliche Moral. Wenn etwas für Dich gut und richtig ist, dann muss es das nicht für mich sein. Ich hab kein Problem damit, es anders zu machen.
Beispiele:
- „Wenn das für mich OK ist, misch Dich nicht ein.“
- „Es ist anmaßend, wenn jemand behauptet, dass seine Religion die richtige ist, und versucht, andere zu bekehren.“ (Tim Keller diskutiert diese Aussage in seinem Buch „Warum Gott?“)
- „Religion ist Privatsache.“ (Tim Keller diskutiert diese Aussage in seinem Buch „Warum Gott?“)
Diese Aussagen bringen uns vielleicht an eine Grenze der Toleranz. Jedenfalls werden hier allgemeingültige ethische Wahrheiten behauptet.
Wie geht es mit Wahrheit im Relativismus weiter?
Relativismus bedeutet: Es gibt die Wahrheit nicht. Alle Aspekte der Wahrheit werden von den verschiedenen Aspekten des Relativismus hinterfragt. Allerdings können wir auch den Relativismus relativieren. Es lohnt sich, darüber tiefer nachzudenken. Was ist gut und richtig am Relativismus? Wo gibt es hilfreiche Berührungspunkte zu einem begründeten Glauben? Wo führt er zu noch mehr Spannungen? (Relativismus ist nur relativ gut.) Und welche Haltung werden Gläubige haben, die anderer Meinung sind und darüber reden wollen? (Bescheiden überzeugt und offen wahrhaftig.)
MEHR
Mehr zu Gorgias
„Frucht dieser Entwicklung war des G. berühmt-berüchtigte Schrift Über das Nichtseiende oder die Natur, von der zwei Zusammenfassungen erhalten sind: bei Pseudo-Aristoteles, De Melisso, Xenophane et Gorgia, und bei Sextus Empiricus, Adversus Mathematicos (weniger zuverlässig). Drei Thesen entwickelt G.: Erstens, es gibt nichts; zweitens, wenn es auch etwas gäbe, wäre es doch für den Menschen unerkennbar; drittens, wenn es auch erkennbar wäre, wäre es doch unseren Mitmenschen nicht mitteilbar und nicht verständlich zu machen.“ (Otto A. Baumhauer Metzler Philosophen-Lexikon: Gorgias von Leontinoi, https://www.spektrum.de/lexikon/philosophen/gorgias-von-leontinoi/128)
Literatur
Christian Bensel, https://www.begruendetglauben.at/category/wahrheit-und-toleranz/
Christian Bensel, Wahrheit und Wandel: Alltägliche Wahrheitsstrategien und Argumentationen in apologetischen Texten. Vdm Verlag Dr. Müller, Saarbrücken 2007. (http://sammelpunkt.philo.at/id/eprint/3043/)
Timothy Keller, Warum Gott? Vernünftiger Glaube oder Irrlicht der Menschheit? (11.Auflage 2020), Brunnen Verlag, Gießen 2010.
C.S. Lewis, The Abolition of Man, Samizdat University Press, Québec 2014 (ursprünglich 1943), 1-2. (Abolition of Man. Zusammenfassung hier: http://lewisiana.nl/abolsum/)
Friedrich Nietzsche, „Die fröhliche Wissenschaft“, in: Friedrich Nietzsche, „Werke II. Morgenröte. Die fröhliche Also sprach Zarathustra“, 6. Auflage, herausgegeben von Karl Schlechta (=Ullstein Buch 2908), Ullstein, Frankfurt 1969., 400ff., II.125.
Jürgen Spieß, „Aus gutem Grund. Warum der christliche Glaube nicht nur Glaubenssache ist“, RBtaschenbuch Bd. 552, R. Brockhaus Verlag, Wuppertal 1998.
Symmachus, rel. 3,10, (384 n.Chr.), zit. n. Michael Fiedrowicz, Apologie im frühen Christentum, Schöningh, 2. Aufl., Paderborn, München, Wien, Zürich 2001, 121.