„‚Was ist Wahrheit?‘, sagte Pilatus spöttisch und wollte nicht bleiben, um die Antwort zu hören. Pilatus war seiner Zeit voraus.“ (John L. Austin 1977, 226.)
So leicht werden wir die Wahrheit nicht los! Aber was ist Wahrheit?
Pilatus war wohl eher skeptisch, ernüchtert, politisch abgebrüht. Der Philosoph J.L. Austin nennt ihn (in Anlehnung an Francis Bacon) spöttisch. Er will den Begriff „Wahrheit“ aufgeben (aber nur, um eine bescheidenere Theorie davon vorzustellen, was „ist wahr“ bedeutet).
So leicht werden wir die Vorstellung von Wahrheit nicht los. Deswegen wird sie seit vielen Jahrhunderten in der Philosophie erforscht. Es gibt verschiedene Theorien darüber, was Wahrheit ist (vgl. dazu Bensel 2007, 11-66).
Wahrheit als Übereinstimmung mit der Realität
Die meisten Menschen und auch die ältesten philosophischen Theorien verstehen Wahrheit so: Wahre Sätze korrespondieren mit den Tatsachen. Wahrheit ist die Übereinstimmung von Überzeugungen mit der objektiven Realität.
Platon veranschaulicht das (in seinem Dialog Sophist, 216a) mit einem Beispiel: Ein Besucher, der Fremde, unterhält sich mit einem Mann namens Theaitet. Wenn er sagt, „Theaitet sitzt“, dann ist das wahr, weil es so ist. Wenn ich sage „Theaitet fliegt“, dann ist das falsch. Weil es nicht so ist.
Fremder: „Theaitet sitzt.“ …
Fremder: „Theaitet, mit dem ich eben rede, fliegt“. …
Theaitet: Die eine [Aussage] ist falsch, die andere wahr.
Fremder: Es sagt aber die wahre wahrhaft Seiendes von dir aus.
Theaitet: Gewiß.
Fremder: Die falsche dagegen anderes als das, was ist.
Theaitet: Ja.
Fremder: Was nicht ist sagt sie also aus als seiend? …
Aristoteles sagt ungefähr dasselbe – nur viel abstrakter und komplizierter:
„Das Sagen, das Seiende sei nicht oder das Nichtseiende sei, ist eine Falschaussage, hingegen das (Sagen), das Seiende sei und das Nichtseiende sei nicht, ist wahr. Daher wird auch der, der sagt, etwas sei oder sei nicht, die Wahrheit sagen oder Falsches sagen.“ (Aristoteles, Metaphysik, 1011b26)
Platon und Aristoteles kennen also beide den Korrespondenztheorie der Wahrheit: Wenn eine Aussage wahr ist, sagt sie etwas aus, das wirklich so ist. Die Aussage stimmt mit der Realität überein.
Natürlich haben Philosophinnen und Philosophen an dieser Stelle jede Menge Fragen:
- Haben wir überhaupt einen tauglichen Zugang zur Realität? Kann unsere Sprache das echt schaffen, treffende Sätze über die Realität zu liefern? Und wie genau funktioniert diese „Korrespondenzbeziehung“, wie hängen Sprache und Realität zusammen? (Zu Einwänden gegen und Argumente für die Korrespondenztheorie siehe Bensel 2007, 20-26.)
Trotzdem bleibt die Korrespondenztheorie die Theorie mit den wenigsten Problemen und den meisten Vorteilen. Außerdem ist das die Vorstellung von Wahrheit für die meisten Menschen.
Wahre Sätze und ihre Eigenschaften
Sätze, die wahre sind, stimmen mit der Realität überein. Wahre Sätze haben aber noch andere Eigenschaften:
- Wahre Sätze stehen mit anderen wahren Sätzen nicht im Widerspruch. Falsche Sätze widersprechen wahren.
- Wahre Sätze sind oft nützlich. Wenn wir sie für wahr halten, führen sie oft zu positiven Auswirkungen. Falsche Sätze führen oft zu unerwünschten Konsequenzen.
- Wahre Sätze sind oft einleuchtend. Mit anderen Personen können wir einen Konsens über wahre Sätze finden.
- Wahre Sätze können manchmal einfacher als unwahre Sätze sein. Einfachere Sätze erscheinen manchmal wahrscheinlicher.
- Wahre Sätze können manchmal verständlicher, vernünftiger erscheinen und ihre Vertreterinnen und Vertreter können sie wahrhaftig und respektvoll vortragen. Wer respektlos ist oder wiederholt beim Lügen auffliegt, dem wird eher nicht geglaubt.
Alle diese Beobachtungen wurden schon zu philosophischen Wahrheitstheorien weiterentwickelt. Sie können aber auch gut als Kriterien für Wahrheit dienen, wenn wir an der Übereinstimmungstheorie festhalten. (vgl. Bensel 2007, 66-76)
Wahrheit hat auch viel mit Überzeugung zu tun. Wir sind von dem überzeugt, was wir als wahr ansehen. In Gesprächen darüber, ob etwas wahr ist oder falsch, versuchen Menschen einander oft zu überzeugen. Wenn sie das gewaltfrei und mit gemeinsamen sprachlichen Mitteln machen, spricht man von Argumentieren. Mehr darüber hier: Zwanglose Beweise.
Wahrheit in der Bibel
Wahrheit ist ein sehr großes Thema in der Bibel. Jesus hat sehr oft darüber gesprochen.
Wenn ihr bei dem bleibt, was ich euch gesagt habe, und euer Leben darauf gründet, seid ihr wirklich meine Jünger. Dann werdet ihr die Wahrheit erkennen und die Wahrheit wird euch frei machen. (Jesus in Johannes 8,31-32)
Übereinstimmung in der Bibel
Was ist Wahrheit in der Bibel? Auch in der Bibel wird eine Korrespondenztheorie der Wahrheit vertreten. Dinge, die gesagt werden, stimmen für ihre Sprecherinnen und Sprecher mit der Realität überein. Hier sind zwei Beispiele. Weitere Beispiele gibt es in Genesis 32,10-11; Deuteronomium 13,13-15; 1. Könige 10,6.
In Genesis 42 wirft Josef seinen Brüdern vor, Spione zu sein und stellt die Wahrheit ihrer Aussagen in Frage. Dann will er die Wahrheit ihrer Aussagen so überprüfen:
Einer von euch soll euren Bruder holen; ihr anderen bleibt so lange gefangen. Dann wird man sehen, ob ihr die Wahrheit gesagt habt. Aber beim Pharao: Ihr seid ja doch Spione! (Genesis 42,16)
Im Johannesevangelium spricht Jesus mit einer Frau an einem Brunnen. Nachdem er sie bittet, ihren Mann zu holen, antwortet sie:
»Ich habe keinen Mann«, sagte die Frau. Jesus erwiderte: »Es stimmt, wenn du sagst: ›Ich habe keinen Mann.‹ Fünfmal warst du verheiratet, und der, mit dem du jetzt zusammenlebst, ist nicht dein Mann. Da hast du die Wahrheit gesagt.« (Johannesevangelium 4,17-18)
Wie geht es mit Wahrheit weiter?
Was ist Wahrheit? Wahrheit ist ein vieldiskutierter Begriff, der zu unserem Alltag dazugehört und nicht nur für Gläubige viel bedeutet. Aber wieso ist Wahrheit dann so in Verruf gekommen? Und was soll sie ersetzen? (Was ist Relativismus?) Wie überzeugend ist diese Alternative? (Relativismus ist nur relativ gut) Welche Haltung brauchen Menschen, die an „Die Wahrheit“ glauben? (Bescheiden überzeugt und offen wahrhaftig)
MEHR
Jesting Pilate
Der Ausdruck „Jesting Pilate“, den J.L. Austin am Anfang seines Aufsatzes über Wahrheit verwendet, geht zurück auf Francis Bacon, der seinen kurzen Aussatz über Wahrheit 1601 so beginnt:
WHAT is truth? said jesting Pilate, and would not stay for an answer. Certainly there be that delight in giddiness, and count it a bondage to fix a belief; affecting free-will in thinking, as well as in acting. And though the sects of philosophers, of that kind be gone, yet there remain certain discoursing wits which are of the same veins, though there be not so much blood in them as was in those of the ancients. But it is not only the difficulty and labor which men take in finding out of truth, nor again that when it is found it imposeth upon men’s thoughts, that doth bring lies in favor; but a natural though corrupt love of the lie itself. (Francis Bacon, Of Truth, in: ders. Essays, Civil and Moral. Vol. III, Part 1. The Harvard Classics. New York: P.F. Collier & Son, 1909–14; Bartleby.com, 2001. www.bartleby.com/3/1/. 2.11.2023).
„Was ist Wahrheit?“, sagte Pilatus scherzhaft und wollte nicht bleiben, um die Antwort zu hören. Gewiss gibt es diese Freude an taumelnder Unbesonnenheit, und man betrachtet es als Knechtschaft, eine feste Überzeugung zu fassen; die den freien Willen im Denken und Handeln beeinträchtigt. Und obwohl die Sekten der Philosophen dieser Art verschwunden sind, gibt es dennoch gewisse geistreiche Diskutanten, die von denselben Adern gespeist werden, obwohl in ihnen nicht so viel Blut steckt wie in denen der Alten. Aber es ist nicht nur die Schwierigkeit und Mühe, die die Menschen auf sich nehmen, um die Wahrheit herauszufinden, noch wiederum, dass sie, wenn sie gefunden wird, sich den Gedanken der Menschen aufzwingt, was Lügen zu Gunsten bringt; sondern eine natürliche, wenn auch korrupte Liebe zur Lüge selbst.
Bacon sieht Pilatus also noch nicht als Vorläufer unserer modernen Zeit, sondern als Symptom einer Geisteshaltung, die schwindliges Taumeln mehr liebt als die schwierige Suche nach Wahrheit und ihre Ansprüche an die, die sie erkannt haben.
Wahrheit in der Bibel: Personal oder propositional?
Obwohl Theologen manchmal andere Theorien bevorzugen, ist der am häufigsten verwendete Begriff von Wahrheit in der Bibel propositional. Wahrheit in der Bibel ist vor allem propositionale Wahrheit, sie ist eine Eigenschaft von Sätzen, Aussagen, Sprechakten, Behauptungen, die eine Bedeutung haben. Die Proposition ist das, was von diesen Sätzen, Aussagen, usw. ausgesagt wird. Sie ist das, was gleich bleibt, wenn wir einen Satz in eine andere Sprache übersetzen, der Inhalt eines Gedankens, Satzes, Überzeugung, … Propositionen bestehen aus Teilen, sie können weiter „zerlegt werden“.
Manche Theologen sprechen gerne auch von einem „personalen“ Wahrheitsbegriff in der Bibel. Diese Darstellung des biblischen Befundes geht auf den Artikel von Rudolf Bultmann in einem wichtigen theologischen Lexikon (Kittel) zurück (vgl. dazu Rudolf Bultmann, „Untersuchungen zum Johannesevangelium“) und wird von Michel Diethelm („’ÄMÄT. Untersuchung über ‚Wahrheit im Hebräischen‘“, Archiv für Begriffsgeschichte 12 [1968]: 30–57) kräftig widerlegt: Auch im Hebräischen überwiegt die propositionale Vorstellung von Wahrheit.
Wahrheit in der Bibel ist vor allem die Übereinstimmung zwischen Proposition und Realität (Korrespondenz). Neben Wahrheit als Korrespondenz von Worten und Taten (Genesis 32,9-10) finden sich auch Anklänge an andere Vorstellungen: Wahrheit als Kohärenz (Markus 14,56-59), Pragmatismus (1.Thessalonicher 2,13 – Wahrheit ist nie nur eine Theorie), charakterliche Integrität (Exodus 18,21), das Gegenteil von Lügen (Jeremia 9,3-5; Sacharia 8,16), Wahrheit ist realer als das Zeichen (Hebräer 8,1-2).
Aussagen der Bibel über „Wahrheit“
Gott ist ein Gott der Wahrheit (Jesaja 65,16) und er will, dass alle Menschen die Wahrheit erkennen (1.Timotheus 2,4). Dabei hilft er ihnen, wie Jesus in seinen Worten an seinen Vater sagt:
„Heilige sie in der Wahrheit! Dein Wort ist Wahrheit.“
Jesus Christus ist die Wahrheit, das wahre Wort, voller Gnade und Wahrheit, das wahre Licht (Johannes 1). Jesus als die Wahrheit in Person (Joh 14,6; 1.Joh 5,20-21) bedeutet: Christus beanspruchte, die Wahrheit zu lehren. Durch ihn erkennen Gläubige die Wahrheit, auf seinem Weg werden sie frei (Joh 8,31-32). Er musste niemals die Wahrheit suchen. Wahrheit ist mit Realität verbunden: Gott ist die grundlegende Realität, daher ist Jesus die Wahrheit.
Der Heilige Geist ist der Geist der Wahrheit (Joh 14,16-17), er führt in die Wahrheit (Joh 16,13).
Gottes Wort ist Wahrheit (Joh 17,17; Spr 30,5). Gott der Sohn trägt alle Dinge durch sein starkes Wort (Hebräer 1,3: seine Worte sind wahre Worte, die die Welt erschaffen und tragen, vgl. Poythress 2009, 289-295). Gottes Worte können und müssen übersetzt werden (vgl. Micha 4,1-2 und Apostelgeschichte 2,8-9; vgl. Poythress 126-130). Gläubige glauben auch an die Wahrheit der Bibel (Psalm 119, 151-152) und die Wahrheit des Evangeliums (Eph 1,13; Röm 1,16; Apg 4,12).
Literatur
John L. Austin, Wahrheit, in: Gunnar Skirbekk (Hg.), Wahrheitstheorien, Suhrkamp 1977, 226-245.
Christian Bensel, https://www.begruendetglauben.at/category/wahrheit-und-toleranz/
Christian Bensel, Wahrheit und Wandel: Alltägliche Wahrheitsstrategien und Argumentationen in apologetischen Texten. Vdm Verlag Dr. Müller, Saarbrücken 2007. (http://sammelpunkt.philo.at/id/eprint/3043/)
Vern Sheridan Poythress, In the Beginning was the Word. Language. A God-Centered Approach, Crossway, Wheaton 2009. (https://frame-poythress.org/wp-content/uploads/2012/08/PoythressVernInTheBeginningWasTheWord.pdf)
John R. W. Stott, Jesus und die Bibel, in: Gottes Wort für unsere Welt, Langham Preaching Resources, Carlisle 2021, 13-23.