Die Evangelien sind in unserer Geschichte und Geographie angesiedelt. Sie spielen sich nicht in einer Fantasiewelt ab. Deswegen gibt es archäologische Forschungen zur Geschichte des Neuen Testamentes. Trotzdem vermuten Leserinnen und Leser immer wieder: Sind die Evangelien nur religiöse Märchen?
Sind die Evangelien religiöse Märchen?
Märchen sind oft recht vage. Wo genau spielt Schneewittchen? Aus welchem Brunnen ist der Froschkönig gesprungen? Diese Märchen haben keinen historischen Anspruch.
Es gibt tatsächlich ähnliche Literatur über Jesus. Ab dem zweiten Jahrhundert entsteht „Fanfiction“ wie zum Beispiel das Thomasevangelium. Diese sogenannten Evangelien berichten aber ohne großes historisches Interesse. Im Thomasevangelium weiß man nicht, wann und wo es spielt, es kommen wenige Personen vor. 6 Personen treten als Akteure auf, über drei weitere wird gesprochen. (Siehe dazu den Abschnitt „Jesus-Fiktionen“ in „Der liebenswürdige Jesus“)
Eines der vier Evangelien aus dem Neuen Testament ist das Lukasevangelium. Dieser Text über Jesus ist anders als das Thomasevangelium. Dort werden 44 Personen mit Namen erwähnt, außerdem werden nicht nur bekannte Städte wie Jerusalem, sondern auch kleine unbedeutende Dörflein wie Nain benannt.
Der Altphilologe Wolfgang Schadewaldt schrieb dazu:
„… dass, wenn wir die synoptischen Evangelien lesen, wir gar nicht anders können als gefangen zu werden von der hier vor uns stehenden Weltfülle. Die damalige Zeit steht vor uns, ebenso die Natur, die Landschaft Palästinas, das Galiläische Meer, die Orte an der Küste bis jenseits des Jordans, auch Nazareth mit seiner steilen Felswand. … Ich kenne im Bereich der Geschichtsschreibung; der Biographien und der Dichtung kaum etwas, wo in einem derart kleinen Bereich eine so gewaltige Weltfülle vor mich hintritt.“ (Schadewald 1983)
Wie wollen die Evangelien selbst verstanden werden?
Oft sagt der Text selbst, wie er verstanden werden will. Wenn Jesus sagt:
Mit dem Himmelreich ist es wie mit einem König, der seinem Sohn die Hochzeit ausrichtete… (Matthäus 22,2)
… dann ist klar: das ist ein Gleichnis. Es geht nicht darum, wann und wo der König regiert hat und welche Steuergesetze er erlassen hat. Jesus macht diesen Vergleich: „Mit dem Himmelreich ist es WIE mit einem König, …“ Der kurze Text sagt uns selbst, wie er verstanden werden will.
Dasselbe gibt es bei vielen Texten. Oft ist schon am Anfang klar, was jetzt kommt:
„Es war einmal ein König namens Nala…“ (Die Geschichte von Nal und Damayanti aus dem alten Indien)
„Es war einmal ein berühmter König in Leinster und sein Name war Mac Dathó …“ (Die Geschichte von MacDatho’s Schwein)
So fangen viele Märchen und Legenden an. Vergleichen wir das mit dem Anfang des Lukasevangeliums:
1 Schon viele haben versucht, die Ereignisse zusammenhängend darzustellen, die Gott unter uns geschehen ließ und mit denen er seine Zusagen eingelöst hat. 2 Diese Ereignisse sind uns überliefert in den Berichten der Augenzeugen, die von Anfang an alles miterlebt hatten und die den Auftrag erhielten, die Botschaft Gottes weiterzugeben. 3 So habe auch ich mich dazu entschlossen, all diesen Überlieferungen bis hin zu den ersten Anfängen sorgfältig nachzugehen und sie für dich, verehrter Theophilus, in der rechten Ordnung und Abfolge niederzuschreiben. 4 Du sollst dadurch die Zuverlässigkeit der Lehre erkennen, in der du unterwiesen wurdest. (Lukas 1,1-4)
Lukas weiß, er ist nicht der erste, der einen Bericht über Jesus schreibt. Er sagt, es gibt Augenzeugen. Die hat er nicht nur hat er nicht nur befragt, er hat selbst auch recherchiert und zwar sorgfältig. Lukas schreibt alles thematisch oder chronologisch geordnet. Er schreibt es für einen Menschen namens Theophilus, damit der zuverlässig weiß, was geschehen ist.
Datierung und Lokalisierung
Die Ereignisse, die Lukas berichtet, sind nicht hinter den sieben Bergen bei den sieben Zwergen passiert in einer Zeit, als das Wünschen noch geholfen hat… sondern, wie in Kapitel drei zu lesen ist:
„Es war im fünfzehnten Regierungsjahr des Kaisers Tiberius. Pontius Pilatus war Statthalter von Judäa, Herodes Antipas regierte in Galiläa, sein Bruder Philippus in Ituräa und Trachonitis, Lysanias regierte in Abilene. Die Obersten Priester waren Hannas und Kajaphas. Johannes, der Sohn von Zacharias, hielt sich noch in der Wüste auf. Dort erging an ihn der Ruf Gottes. Da machte er sich auf, durchzog die ganze Gegend am Jordan und verkündigte …“ (Lukas 3,1-3)
Lukas verankert seinen Bericht präzise in Raum und Zeit. So haben Historiker damals datiert. Und so hat Lukas gearbeitet. Er sagt uns konkret, wann und wo und wer was getan hat.
Das Genre der Evangelien
Lukas schreibt so, dass klar wird: Er wollte kein Märchen schreiben, sondern er wollte historisch ernst genommen werden. Er hat dazu eine antike Biographie geschrieben. Professor Hans Bayer schreibt:
„Neuere Studien bestätigen, dass das Elementargenre, mit dem die Evangelien am engsten verbunden sind, das des antiken βίος [bios] ist. In einer ausführlichen Studie hat Burridge das Genre von zehn unterschiedlich datierten, griechisch-römischen biographischen Reminiszenzen (βίοι [bioi]) analysiert und kommt zu dem Ergebnis, dass die Evangelien dem relativ flexiblen literarischen Genre religiöser βίοι [bioi] näher steht als etwa dem der ‚philosophischen Abhandlung‘, dem Genre der ‚Berichte von Heldentaten‘, den ‚Memoiren von Helden‘, dem Genre des ‚jüdischen apokalyptischen Dramas‘ oder ‚Sammlungen göttlicher Menschen‘.“ (Bayer 62)
Die vier Evangelien im Neuen Testament passen am besten zum antiken Bios. Lukas wollte also als Historiker eine Biographie von einer historischen Person schreiben, Jesus von Nazareth.
Deswegen wäre es ein Lese-Hoppala, das als Märchenbuch abzustempeln.
Natürlich fragen wir auch bei anderen antiken Historikern: Stimmt das, was die da berichten? Waren sie wahrhaftig? Waren sie nahe dran an den Geschehnissen? Ist überhaupt möglich, was sie da berichten?
Diese Fragen sind bei den vier Evangelien im Neuen Testament sinnvoll. Die Autoren, wie Lukas, haben keine Märchen verfasst. Sie behaupten, historische Fakten zu berichten. Und das haben sie mit vier spannenden Büchern geschafft, die zu Weltbestsellern geworden sind.
Mehr
Jürgen Spieß, Wollen die Schriften des Neuen Testaments historisch ernst genommen werden?, in: Aus gutem Grund. Warum der christliche Glaube nicht nur Glaubenssache ist. jota Publikationen: Muldenhammer, 2010. 2. erweiterte und überarbeitete Auflage, 44-60.
Alisa Childers, Ankern. Eine Verteidigung der biblischen Fundamente in postmodernen Gewässern, fontis 2021, besonders Kapitel 7 „Denn die Bibel sagt es so“ (135-156) und 8 „War es nur ihre persönliche Wahrheit?“ (157-175)
Hans F. Bayer, Das Evangelium des Markus, HTA, SCM R. Brockhaus Verlag, Witten 2008.
Zitate
„Mir liegt als Philologen, als einem, der sich eine gewisse Kenntnis von ‚Literatur‘ angeeignet hat, hier vor allem daran festzuhalten, dass, wenn wir die synoptischen Evangelien lesen, wir gar nicht anders können als gefangen zu werden von der hier vor uns stehenden Weltfülle. Die damalige Zeit steht vor uns, ebenso die Natur, die Landschaft Palästinas, das Galiläische Meer, die Orte an der Küste bis jenseits des Jordans, auch Nazareth mit seiner steilen Felswand. Wir sehen vor uns, wenn wir es nur einfach genug lesen, wie Jesus dahin und dorthin wandert eine Situation, die man missversteht, wenn man das häufig wiederkehrende »auf dem Wege< nur als literarische Floskel fasst, wo doch gerade dieses das Leben von Jesus, ausmacht; seine Wege durch Galiläa und darüber hinaus von Jericho hinauf nach Jerusalem. Ich kenne im Bereich der Geschichtsschreibung; der Biographien und der Dichtung kaum etwas, wo in einem derart kleinen Bereich eine so gewaltige Weltfülle vor mich hintritt.“ (Wolfgang Schadewald, Die Zuverlässigkeit der synoptischen Tradition, in: BW-Journal, Sonderbeilage zu Heft 3/1983, zit.n. Spieß 46)
„Neuere Studien bestätigen, dass das Elementargenre, mit dem die Evangelien am engsten verbunden sind, das des antiken βίος [bios] ist. In einer ausführlichen Studie hat Burridge das Genre von zehn unterschiedlich datierten, griechisch-römischen biographischen Reminiszenzen (βίοι [bioi]) analysiert und kommt zu dem Ergebnis, dass die Evangelien dem relativ flexiblen literarischen Genre religiöser βίοι [bioi] näher steht als etwa dem der ‚philosophischen Abhandlung‘, dem Genre der ‚Berichte von Heldentaten‘, den ‚Memoiren von Helden‘, dem Genre des ‚jüdischen apokalyptischen Dramas‘ oder ‚Sammlungen göttlicher Menschen‘.“ (Bayer 62)
„Antike bioi beschreiben oft das bereits gereifte Leben wichtiger Personen, die zu Beginn benannt werden und sodann als Hauptpersonen in den jeweiligen Erzählungen auftreten. Eine einfache chronologische Abfolge, die vor allem zu Beginn und am Schluss bemerkbar ist, wird besonders im Mittelteil durch thematische Einschübe angereichert. Bioi berufen sich auf mündliche und schriftliche Quellen der Taten und Worte der Hauptperson (sog. ‚Chrien‘), um damit den Charakter der Person darzustellen.“ (Bayer 61)
„Das Genre ‚Evangelium‘ vermittelt bereits den vom jeweiligen Autor konzipierten Vorstellungshorizont, der besagt, dass die Evangelien des Matthäus, Markus und Lukas (und Johannes) beabsichtigen, sowohl historisches Zeugnis als auch Verkündigung (Kerygma) der Bedeutung des Berichteten zu enthalten. Die Evangelien weisen sich selbst als Verkündigung durch historisches Zeugnis aus.“ (Bayer 63)
„Das Mk Ev. Ist daher mit dem Genre ‚Bios‘ verbunden und erhebt damit den Anspruch eines historischen Zeugnisses (biographische Darstellung), dessen Inhalt als Verkündigung weitergegeben wird. Im Gegensatz zu vergleichbaren antiken βίοι [bioi] liegt bei allen vier kanonischen Evangelien jedoch ein analogieloser Schwerpunkt auf dem Tod der Hauptperson, einschließlich dessen außerordentlichen Bedeutung.“ (Bayer 63)